Mit der Sichtung zahlreicher Videos, die der Angeklagte mit einer Helmkamera während seiner Motorradfahrten aufgenommen hat, wurde am Donnerstagmorgen der Prozess gegen einen Bremer fortgesetzt.
Offensichtlich hat der 24-Jährige Spaß an seiner Motorradraserei durch die Bremer Innenstadt. Immer wieder ist auf seinen mit einer Helmkamera aufgenommenen Videos Lachen zu hören. Laut und lang anhaltend, manchmal geradezu euphorisch. So oft und so überdreht, dass man versucht ist, es "irre" zu nennen. Doch am 17. Juni 2016 war Schluss mit lustig. Da hat der Motorradfahrer in Walle an einer Ampel einen Rentner totgefahren. Dafür muss er sich nun vor dem Landgericht verantworten – angeklagt wegen Mordes.
Es gibt keine Zeugenvernehmung an diesem Verhandlungstag, auch keine Anträge von Verteidigung oder Staatsanwaltschaft – am Donnerstag werden im Gerichtssaal Videos geschaut. Drei Stunden lang, unterteilt in zwei eineinhalbstündige Blöcke. Und auch das ist nur eine Auswahl. Insgesamt 15 Stunden Filmmaterial hat die Polizei bei dem Angeklagten sichergestellt. Videos für die Abonnenten seines Youtube-Kanals "Alpi fährt". Alpi ist die Kurzform seines Vornamens, die Filme zeigen seine Motorradjagden in Bremen. Von der Sichtung der Videos erhofft sich das Gericht Rückschlüsse auf die Einstellungen des Angeklagten, erklärt der Vorsitzende Richter.
Tödliche Prophezeiung
Stundenlang verfolgen die Zuschauer anschließend, wie der 24-Jährige durch die Bremer Innenstadt rast. Wie er andere überholt, links, rechts oder im Stau in halsbrecherischem Tempo auch mal mitten durch die wartenden Pkw-Reihen hindurch. Sie werden Zeuge von Probefahrten mit neuen Motorrädern, nehmen teil an seiner Entscheidung für eine 200 PS starke Kawasaki – "Oh mein Gott, ich hab' mich verliebt" – und hören dabei seine Kommentare.
Denn Alpi fährt nicht nur, er redet auch. Fast ohne Pause auf jedem Video. Die hat er eigens dafür immer unter ein bestimmtes Thema gestellt. Mal geht es um die richtigen Reifen bei nasser Fahrbahn, mal um Schutzkleidung, aber auch um Kampftraining und Fitness.
Der Angeklagte sagt Sätze wie "Motorradfahren kann tödlich enden, wenn man nicht seinen Verstand benutzt". Oder er gibt Ratschläge zum Verhalten in kritischen Situationen. Etwa als ein Fußgänger auf der Discomeile erst im letzten Moment vor dem heranrasenden Motorrad des 24-Jährigen stehen bleibt: "An ihm vorbeigucken und dann vorbeifahren", kommentiert Alpi. "Ist einfach, ganz einfach." Ein paar Monate später wird genau so eine Situation für einen Fußgänger tödlich enden.
Einmal, am Morgen nach den Attentaten von Paris im November 2015, war dem 24-Jährigen nicht nach "dem üblichen Small Talk", wie er sagt. Da stellte er sich Sinnfragen wie" "In was für einer Welt leben wir eigentlich?" oder "Will ich in so eine Welt ein Kind setzen?" Bloß um dann übergangslos minutenlang darüber zu lamentieren, dass ihm sein Handy runtergefallen und dabei zu Bruch gegangen ist.
Kein Respekt für andere Verkehrsteilnehmer
Vor allem aber redet er viel über sich selbst, und die Rollen in seinen Kommentaren sind ohnehin klar verteilt. Alpi ist der Chef, hat den Durchblick und alles unter Kontrolle. Die anderen Verkehrsteilnehmer dagegen sind "Idioten", "behinderte Menschen" oder – wenn weiblich – "Huren" und "Nutten".
Hierzu gibt der Angeklagte am Donnerstag nach der dreistündigen Videobeschallung eine persönliche Erklärung ab. Er entschuldigt sich bei den Angehörigen seines Opfers und allen anderen im Saal für die Ausdrucksweise in seinen Filmen. Die Videos seien in einer Zeit entstanden, als er nie im Leben daran gedacht habe, jemanden zu verletzen oder gar zu töten. Es seien ungefilterte Worte, die er völlig unbedacht ausgesprochen habe, und ihm sei bewusst, wie abwertend und zynisch sie klängen. "Privat würde ich nie so mit jemandem sprechen und dass entspricht auch nicht meinem Denken." Doch in der Motorrad-Szene auf Youtube habe sich die Sprache so entwickelt, deshalb habe auch er sie benutzt. "Aber lediglich als Instrument", um es anderen berühmten Youtubern gleichzutun.
Abgesehen von diesem Statement blieb es Donnerstag bei dem Video-Marathon. Die Verhandlung wird am 12. Januar um 9 Uhr fortgesetzt, unter anderem mit der Aussage eines psychologischen Sachverständigen.
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