Was sonst regelmäßig nach Wahlen stattfindet, wird diesmal schon vor dem Europa-, Bürgerschafts-und Beirätewahltag beschworen: Es werden „prekäre Wahlen“ vorausgesagt (Björn Tschöpe im Weser-Kurier vom 30. Januar, Anm. d. Red.), weil auch im kommenden Mai wieder eine niedrige Wahlbeteiligung erwartet wird. Man meint, dass wieder diejenigen nicht zur Wahl gehen werden, die arm und benachteiligt sind, die in der Politik keine Aufmerksamkeit genießen und die sich deshalb von ihrer Stimmabgabe auch nichts versprechen können. Die Bertelsmann-Stiftung erklärt solche Wahlen für nicht repräsentativ und der Fraktionsvorsitzende der SPD-Bürgerschaftsfraktion sieht aus diesem Grund in solch prekären Wahlen eine echte Gefahr für die Demokratie.
Tatsächlich stimmt es, dass dort, wo sich Armut, Benachteiligung und Perspektivlosigkeit ausbreiten, die Beteiligung an Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen, das Engagement für und die Identifikation mit dem Lebensumfeld geringer ausfallen, als in anderen Schichten und Milieus. Dennoch erklärt das weder die Wahlenthaltung von rund 50 Prozent der Wahlberechtigten noch den stetigen Anstieg er Wahlabstinenz. Betrachtet man die Gesamtheit der Nichtwählerinnen und Nichtwähler, so zeigt sich, dass nur etwa ein Drittel davon dem untersten Fünftel der sozialen Schichtung angehört. Zwei Drittel der Nichtwähler stammen aus den Mittel- und Oberschichten. Angeraten wäre, auch nach deren Motiven zu forschen, wenn man Wahlenthaltung ernsthaft als Problem für die Demokratie sehen würde.
Armutsproblem mit keinem Wort erwähnt
Wahrscheinlich wäre dabei festzustellen, dass der eigentliche Grund für die Wahlabstinenz in allen Schichten in dem abnehmenden Glauben an die Leistungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit „der Politik“ liegt. Dem wäre vermutlich gegenüber gebildeten Kosmopoliten genauso zu begegnen wie gegenüber dauerhaft benachteiligten Hartz-IV-Empfängern: mit konsequenten und substanziellen politischen Anstrengungen.
Um beim Thema Armut zu bleiben: Die Zukunftskommission, die im vergangenen Jahr politische Schwerpunkte für die nächste Dekade erarbeiten sollte, erwähnt das Armutsproblem mit keinem Wort. Dabei ist hinreichend dokumentiert, dass die Verfestigung von Armutslagen, die soziale Segregation und der Mangel an Teilhabechancen in Bremen überdurchschnittlich ausgeprägt sind. Eine Armutspolitik, die diesen Namen verdienen würde, ist weit und breit nicht zu erkennen. Stattdessen diskutiert man lieber über Briefwahlen im Schulunterricht und Wahlurnen im Einkaufszentrum.

Günter Warsewa ist Direktor des Instituts Arbeit und
Wirtschaft der Universität Bremen.
Unser Gastautor
ist seit 2009 Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen. Der promovierte Sozialwissenschaftler forscht unter anderem zu Stadt- und Regionalsoziologie.