Deutsch-türkisches Anwerbeabkommen wird heute 50 Jahre alt Wie aus Gastarbeitern Bremer wurden

Bremen. Türkische Zuwanderer sind in Bremen heute bestens in die Arbeitswelt integriert. Davon geht der Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände im Lande Bremen, Cornelius Neumann-Redlin, aus. Dennoch sind auch Herausforderungen geblieben..
30.10.2011, 04:00 Uhr
Lesedauer: 4 Min
Zur Merkliste
Von Sebastian Manz

Bremen. Auf den Tag genau vor 50 Jahren schlossen die Türkei und die Bundesrepublik Deutschland das sogenannte Anwerbeabkommen. Das Vertragswerk erleichterte es türkischen Menschen, hierzulande eine Arbeit zu ergreifen - begrenzt auf einige Jahre. Doch die Zuwanderung entwickelte ihre eigene Dynamik. Heute leben knapp drei Millionen Menschen türkischer Abstammung in Deutschland, in Bremen sind es etwa 30.000. Fünf Jahrzehnte nach seiner Unterzeichnung lässt sich festhalten, dass die Einwanderung Bereicherung und Herausforderung zugleich ist.

Arbeitskräfte waren knapp in der jungen Bundesrepublik. Das Land erlebte ein Wirtschaftswunder, die Unternehmen wuchsen und hatten einen schier unstillbaren Bedarf an Arbeitskraft. Die Bundesregierung reagierte, indem sie mit mehreren Ländern sogenannte Anwerbeabkommen vereinbarte, die den Zugang ausländischer Arbeitskräfte auf den deutschen Arbeitsmarkt vereinfachen sollten. Das erste dieser Abkommen wurde 1955 mit Italien abgeschlossen. Das für die deutsche Gesellschaft prägendste folgte sechs Jahre später, am 30. Oktober 1961. Es war die Übereinkunft, die türkischen Menschen den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt öffnete. Hunderttausende junger Türken machten sich daraufhin auf den Weg, um in deutschen Bergwerken, Baugruben und Montagehallen ihr Glück zu machen.

Tausende von ihnen kamen nach Bremen. Vor allem die Werften, die Stahlwerke und die Autoindustrie hatten großen Bedarf. Die Türken übernahmen vor allem Jobs als un- oder angelernte Arbeiter. "Dabei befanden sich gerade unter der ersten Einwanderer-Generation viele gut ausgebildete Menschen, die allerdings oftmals Tätigkeiten weit unter ihrer Qualifikation erledigen mussten", sagt Yasemin Vierkötter, Bremer Honorarkonsulin für die türkische Republik. Erst im Laufe der Zeit seien immer mehr ungelernte Arbeitskräfte aus dem Osten Anatoliens zugewandert.

Eine dauerhafte Einwanderung hatten die Regierungen beider Länder nicht vorgesehen. Im deutsch-türkischen Anwerbeabkommen war eine maximale Aufenthaltsdauer von zwei Jahren festgeschrieben. Auch Familiennachzug schloss das Vertragswerk aus. Doch schon 1964 wurde die Befristung des Aufenthalts auf Druck der Wirtschaft aufgehoben. Unter dem Eindruck der Rezession und der Ölkrise erließ die Bundesregierung 1973 schließlich einen Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte. Damals lebten bereits rund 900.000 Türken in Deutschland.

Dass heute rund drei Millionen türkischstämmige Menschen hierzulande leben, liegt zum einen daran, dass in den siebziger Jahren schließlich der Nachzug von Ehepartnern und Kindern aus der Türkei gestattet wurde. Andererseits beantragten besonders in den 80er- und 90er-Jahren Zehntausende türkischstämmiger Kurden Asyl in Deutschland. "Das deutsch-türkische Anwerbeabkommen war mit Sicherheit eine der größten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Weichenstellungen in der Geschichte der Bundesrepublik", sagt Cornelius Neumann-Redlin, Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände im Lande Bremen. Nach Angaben der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer in Köln gibt es heute in Deutschland mehr als 80.000 türkische Unternehmen. Sie erwirtschaften einen Gesamtumsatz von rund 35 Milliarden Euro und beschäftigen mehr als 400.000 Menschen. Was Bremen betreffe, seien die türkischen Zuwanderer heute bestens in die Arbeitswelt integriert, sagt Neumann-Redlin. Man finde sie auf allen Ebenen - vom Betriebsrat bis zur Unternehmensleitung. "Dennoch bleiben auch Herausforderungen, etwa wenn es darum geht, Jugendliche aus sozial schwächeren Einwandererfamilien an den Arbeitsmarkt heranzuführen", sagt der Arbeitgebervertreter.

Eine Einschätzung, die auch Vierkötter teilt. In vielen Fällen fehle es der nachgezogenen Verwandtschaft aus der Türkei an Sprachkenntnissen. Das betreffe häufig die Mütter in den Familien. Entsprechend wenig könnten sie die schulische Bildung ihrer Kinder unterstützen. "Den Kindergartenbesuch zur Pflicht zu machen und die Mütter noch stärker zu fördern, wäre schon die halbe Miete", sagt Vierkötter.

Bremens führende Migrationsforscherin, Yasemin Karakasoglu, zieht zum Jubiläum des Anwerbeabkommens ein optimistisches Resümee. "Es wurden viele Dinge unter sehr schwierigen Umständen erreicht", sagt die Professorin. Man dürfe nicht vergessen, dass es sich zu keinem Zeitpunkt um eine geplante Zuwanderung gehandelt habe. Die meisten Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen seien, hätten lange Zeit geplant, wieder in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Umgekehrt habe in der Bundesrepublik, die sich bis zum Jahr 2004 nicht als Einwanderungsland bezeichnet und damit viele Gestaltungsmöglichkeiten verpasst habe, niemand daran gedacht, den sogenannten Gastarbeitern Integrationsangebote zu machen, damit sie sich in der deutschen Gesellschaft besser zurechtfinden.

Einen gesetzlichen Rahmen für Integrationsmaßnahmen gebe es erst seit 2004. Davor hätten Anstrengungen in dieser Richtung überwiegend auf zivilgesellschaftlichem Engagement beruht. "Betrachtet man diesen bescheidenen Rahmen, ist doch recht viel geschafft worden", sagt Karakasoglu. So habe etwa die Bildungsbeteiligung der türkischstämmigen Bevölkerung kontinuierlich zugenommen. Während unter den heute über 60-Jährigen nur drei Prozent Abitur gemacht hätten, liege dieser Wert bei den 20 bis 25-Jährigen bereits bei 22 Prozent. Die Quote sei zwar noch nicht gleichwertig mit der der angestammten Bevölkerung, dennoch sei die Entwicklung beachtlich. Trotzdem mahnt Karakasoglu. Noch immer klagten viele Zuwanderer über Benachteiligungen, etwa wenn es um Wohnungs- oder Arbeitsplatzsuche gehe. Es sei daher notwendig, dass Migranten als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft betrachtet würden. Neuankömmlingen müsste gezeigt werden, dass sie im Land willkommen seien.

Jetzt sichern: Wir schenken Ihnen 1 Monat WK+! Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Einwilligung und Werberichtlinie

Ich erkläre mich damit einverstanden, dass die von mir angegebenen Daten dazu genutzt werden, regelmäßig per E-Mail redaktionelle Inhalte des WESER-KURIER seitens der Chefredaktion zu erhalten. Die Daten werden nicht an Dritte weitergegeben. Ich kann diese Einwilligung jederzeit formlos mit Wirkung für die Zukunft widerrufen, z.B. per E-Mail an widerruf@weser-kurier.de.
Weitere Informationen nach Art. 13 finden Sie unter https://www.weser-kurier.de/datenschutz

Schließen

Das Beste mit WK+