Thomas Mirow: Das Gespenst hat Olaf Scholz als Bild gebraucht, um deutlich zu machen, dass die HSH vor sieben Jahren ein unvorstellbares Risiko gewesen ist, dessen Dimensionen niemand im Griff hatte. Es hätte die Landeshaushalte sprengen können. Das ist vorbei. Die finanziellen Folgen dieser desaströsen Entwicklung werden die Menschen in Hamburg und Schleswig-Holstein noch sehr lange spüren. Der Gesamtschaden wird zwischen 10 und 12 Milliarden Euro liegen, und das ist für die Länder eine gewaltige Summe. Aber es ist jetzt zumindest eine beherrschbare Dimension.
Und trotzdem der größte wirtschaftliche Schiffbruch, den die norddeutschen Bundesländer jemals erlitten haben.Absolut. Es handelt sich um eine gigantische zusätzliche Pro-Kopf-Verschuldung.
Ist das Problem nicht typisch für halbstaatliche Institutionen: In der Krise muss der Staat einspringen, dann wird saniert, und der Steuerzahler verliert ein zweites Mal. Wenn wieder Geld verdient wird, haben die öffentlichen Anteilseigner nichts davon. Also hat er den doppelten Verlust – am Anfang der Krise und bei der Aufarbeitung nochmal.Wir hatten ja nicht die Situation, dass der Staat bei einem privaten Unternehmen eingesprungen ist. Sondern der Staat war Eigentümer – und hatte insofern Rechte und Pflichten und die Verantwortung. Wenn man Eigentümer ist und unternehmerisch fahrlässig gehandelt hat, muss man für die Folgen einstehen. Das führt zur Frage, ob der Staat ein guter Eigentümer von Banken ist. Das würde ich durchaus mit Fragezeichen versehen. Es gibt positive Beispiele wie die KfW. Aber große Banken wie einstmals die WestLB oder einstmals die HSH sind sicher keine Beispiele für gute Unternehmensführung gewesen.
Was war rückblickend die größte unternehmerische Fehlentscheidung der HSH?Die Kette der verunglückten Entscheidungen fing damit an, dass die EU den Landesbanken die lange Übergangsfrist gewährt hat in Hinblick auf die Gewährträgerhaftung. Das hat dazu geführt, dass sich die Landesbanken mit Liquidität vollgesaugt haben – aus Angst, diesen Endtermin als Schranke zu bekommen. Und wer viel Geld hat, aber keinen Plan, fängt an, damit Unsinn zu machen. Dann hat man geglaubt, aus zwei Landesbanken mit einer sehr konservativen öffentlich-rechtlichen Kultur innerhalb von kurzer Zeit eine börsennotierte Investmentbank machen zu können. Man hat geglaubt, man könne mit dem bestehenden Personal aus einer Landesbankenwelt in eine völlig andere Welt migrieren. Und schließlich wollte man zeigen, wie schnell man wachsen und über die Grenzen der traditionellen Landesbanken hinausgehen kann. Und man ist in einer Weise Kreditrisiken eingegangen, die unverantwortlich war.
Vor allem Schiffe.Vor allem, aber nicht nur. Es ging auch um Immobilien in den USA, obwohl man davon nicht viel verstand. Und das mit Prozessen, die deutlich unter Standard waren und die heute von der Aufsicht nicht akzeptiert würden. Aber damals wurden sie geduldet.
Wie konnte das passieren? Wer hat da versagt?Alle haben versagt. Das Management, der Aufsichtsrat und die Gesellschafter auch.
Wo hat der Staat versagt?Der Staat hat versagt in der Konfiguration der beiden Hauptgesellschafter Schleswig-Holstein und Hamburg. Und sicher hat auch die Finanzaufsicht nicht tief genug gegraben, wie ja überhaupt die Aufsicht überall auf der Welt bis zur Finanzkrise nicht tief genug gegraben hat.
Gab es einen Zeitpunkt, an dem ein Ministerpräsident, ein Bürgermeister die Notbremse hätte ziehen können und müssen?Ja, sicher. Es gibt einen klar definierbaren Zeitraum, in dem das ganze Unglück angerichtet worden ist: Die fünf Jahre zwischen 2003 und 2008. Zu jedem Zeitpunkt in diesen Jahren hätte man das ändern können. Und jeder Zeitpunkt hätte noch richtig etwas bedeutet. Gerade 2008 ist noch einmal richtig etwas aufs Kreditportfolio draufgelegt worden – am Vorabend der Finanzkrise, die natürlich niemand ahnen konnte. Aber unabhängig von der Krise hat man unter dem Gesichtspunkt der vernünftigen Unternehmensführung unverantwortlich gehandelt.
Wenn Sie sagen: alle waren schuld. War am Ende niemand schuld? So hat es Bremens Finanzsenatorin einmal im Interview gesagt.Nein, das ist etwas völlig anderes. Ich bin nur dagegen, dass man es an einzelnen festmacht, auch nicht an einzelnen Vorstandsmitgliedern. Mehrere sind verantwortlich, und es waren nicht nur die verrückten Banker. Die gab es auch. Aber von den Eigentümern war gewollt, dass die Bank unvorbereitet zu neuen Ufern aufbricht. Geht das Regierungschefs an? Aus meiner Sicht ja.
Also hätte Ole von Beust den Irrsinn stoppen müssen.Er war damals Regierungschef in Hamburg, so wie Heide Simonis Regierungschefin in Schleswig-Holstein war und später Peter-Harry Carstensen. In deren Zeit ist das gefallen, und die tragen natürlich Verantwortung.
Gab es auch ein Kontrollproblem? Wenn Finanzsenatoren gleichzeitig Aufsichtsratschefs einer landeseigenen Bank sind, gibt es ja einen Interessenkonflikt: Sie müssen Geld für den Haushalt beschaffen und gleichzeitig Risiken einhegen.Ich glaube, das Hauptproblem ist ein anderes. Ein Senator hat so viel um die Ohren, dass der Vorsitz eines Aufsichtsrats bei einem so komplexen Unternehmen eigentlich nicht möglich ist. Die EZB hat mich wissen lassen, dass sie von mir einen Einsatz für die HSH von etwa 100 Tagen im Jahr erwartet. Ein Finanzsenator hat nicht die Möglichkeit, 100 Tage auf eine Bank zu verwenden. Er ist in hohem Maße angewiesen auf seinen Apparat. Und er kann sich dem Aufsichtsratsvorsitz nicht so widmen wie jemand, der sonst nicht so viel zu tun hat.
Das würde dann aber für Aufsichtsräte von staatlichen Unternehmen generell gelten, also auch für die Bahn.Ich glaube nicht, dass die Deutsche Bahn im Moment eine besonders gute Corporate Governance hat. Bis heute ist nie wirklich geklärt worden, ob man in erster Linie ein Unternehmen haben will, das im Wettbewerb steht, oder vor allem eine öffentliche Infrastruktur-Einrichtung. Ich bin nicht grundsätzlich gegen Unternehmen in öffentlichem Eigentum. Allerdings würde ich heute dazu raten, externe, unabhängige Fachleute für die Aufsichtsrats-Spitze zu holen, wo es um größere und komplexe Unternehmen geht.
Sie haben ein langes Berufsleben in Kontrollgremien hinter sich. Was zeichnet einen guten Aufsichtsrat aus?Es kommt darauf an, beide Worthälften mit Leben zu füllen: Die Aufsicht und den Rat. Die Balance kann nur jeder für sich definieren. Sicher kommt es darauf an, dass man ein gutes, kooperatives Verhältnis zum Management hat. Trotzdem muss man sich ein Stück Distanz bewahren, um die Aufsicht über das Management auszuüben. Man muss wissen und verstehen, wie das Unternehmen tickt, aber die Finger davon lassen, ins operative Geschäft einzugreifen. Die Führung eines Aufsichtsrats ist natürlich immer auch ein Teambuilding: Kann man mit den Vorsitzenden der Ausschüsse vernünftig zusammenarbeiten, hat man die richtigen ausgesucht, wie ist das Zusammenwirken mit der Arbeitnehmerbank? Und dann steht alle paar Jahre die Königsdisziplin an; nämlich die richtigen Vorstände auszuwählen und einen schlagkräftigen Vorstand zusammenzustellen.
Waren sie früher als Senator ein guter Aufsichtsrat?Nein, nicht wenn man die heutigen Maßstäbe anlegt. Man hatte eine Sitzung, und wenn man Glück hatte, konnte man vorher noch über die Vorlagen aus dem Apparat mit dem Mitarbeiter etwas intensiver sprechen. Dann gab es vielleicht noch eine Vorbesprechung mit dem Vorstandsvorsitzenden. Ich war damals Vorsitzender des Aufsichtsrats der HHLA, der Flughafen-AG, ich war Vorsitzender der Messe- und Kongress GmbH, des Verwaltungsrats der Hamburger Wirtschaftsförderung. Alleine diese vier Mandate wären nach heutigen Standards ein Fulltime-Job.
Warum soll der Staat nicht die unternehmerische Führung haben? Ist das auch eine Frage des Mindsets, der Kultur?Die Landesbanken hatten über Jahrzehnte ein todsicheres Geschäftsmodell, das schlicht in der Zinsdifferenz bestand. Sie hatten das perfekte Rating. Wenn sie keinen groben Unsinn anstellten, war klar, dass sie immer gutes Geld verdienen würden. Und die Landesbanken waren in der Region fest verankert und sehr gut beleumdet. Aber wir leben heute in einer anderen Welt. Den Zinsvorteil gibt es nicht mehr. Die Banken stehen im vollen Wettbewerb. Gleichzeitig unterliegen sie allen möglichen Restriktionen. Zum Beispiel ist es heute sehr schwer, dass der Staat Banken, die ihm gehören, rekapitalisiert, weil sofort der Verdacht aufkommt, es handle sich um eine Beihilfe. In einem Markt, der so wettbewerbsintensiv ist wie der Bankensektor in Deutschland, muss eine öffentlich-rechtliche Bank ständig Rechenschaft ablegen auch im Parlament, in der Abgeordnete diskutieren über die Richtigkeit von Geschäftsmodellen. Das ist eine schwierige Situation.
Also müsste der Staat raus aus den Landesbanken.Das würde vielleicht sehr weit gehen. Ich glaube aber, dass die öffentlich-rechtlichen Banken in Deutschland, der Landesbankensektor mit seinen Bausparkassen und Versicherungen, den Weg gehen sollten, den die Genossenschaftsbanken schon hinter sich haben. Es gibt aus meiner Sicht einen hohen Konsolidierungsbedarf.
Die HSH Nordbank ist die erste Landesbank, die privatisiert werden soll. Könnte das auch ein Weg sein für die NordLB?Die Eigentümer der NordLB müssen sehen, wie sie mit ihren Themen umgehen. Ich glaube, dass man vor zwei, drei Jahren die Probleme hätte gleichzeitig und gemeinsam angehen können und sollen – und ich habe auch versucht, hier einen Anstoß zu geben. Das war aber nicht möglich. Nun gibt es für die HSH eine Lösung, und die Eigentümer der NordLB müssen für sich eine Lösung finden.
Kann die Privatisierung der HSH noch vor der Sommerpause unter Dach und Fach gebracht werden?Darauf würde ich nicht wetten. Der Vorstand und alle anderen würden das gerne sehen, und ich auch. Übergangssituationen sind immer blöd. Aber wir reden über einen komplexen Vorgang. Ob alle Instanzen bis zum 30. Juni fertig werden, kann man hoffen. Aber das wird sportlich.
Wozu braucht der deutsche Bankenmarkt überhaupt noch Landesbanken?Diese Frage beantwortet sich im Markt. Die Landesbanken haben ja durchaus Erfolge. Wenn die Margen niedrig sind, ist das für die Banken schade, aber für die Kunden ja nicht. Die Landesbanken füllen eine Lücke in dem nicht ganz kleinen Feld zwischen dem Geschäft der Sparkassen im überwiegend kleineren Mittelstand und dem, was große Banken tun. Es gibt aber in Deutschland zum Glück viele große Mittelständler, und die sind nach meiner Wahrnehmung mit den Landesbanken sehr zufrieden. Dann gibt es zusätzliche Spezialisierungen, zum Beispiel auf Schiffe, Energie, Infrastruktur oder auch Immobilien, wo natürlich die Ortskenntnis eine große Rolle spielt.
Gibt es eine Lehre, die Banken wie Unternehmen aus der Schifffahrtskrise ziehen können?Aus meiner Sicht gibt es zwei. Die erste ist: Rechne nie damit, dass exponentielles Wachstum auf Dauer stattfindet. Zweitens: Stütze dich nicht auf steuergetriebene Finanzierungsmodelle. Denn die haben immer zur Folge, dass der Markt aus dem Blick gerät, weil die Leute einfach ihre Steuerschulden reduzieren wollen. Das war so mit den Wohnungen in Ostdeutschland in den 1990er Jahren, und das war mit den Schiffs-KGs auch so. Da hat kein Mensch mehr gefragt, ob die Schiffe wirklich noch gebraucht werden.
Sehen sie die Gefahr neuer Klumpenrisiken bei den Banken in anderen Geschäftsfeldern?Die Banken sind heute ungleich stabiler als vor zehn Jahren. Also ist die Frage, ob eine nächste Finanzkrise aus dem Bankensektor heraus entsteht oder nicht vielleicht von anderen Marktteilnehmern ausgeht. Sicher haben alle Banken davon profitiert, dass die vergangenen zehn Jahre eine ununterbrochene Wachstumsgeschichte waren. Praktisch niemand hat in den letzten Jahren im Unternehmenskunden-Geschäft in größerem Maße notleidende Kredite aufgebaut. Ob es Banken gibt, die im Immobilienbereich angefangen haben, unvorsichtig zu werden und zu hohe Finanzierungen zu übernehmen, kann ich im Detail nicht beurteilen.
Wie schwer werden sich die Institute mit der Zinswende tun?Das kommt darauf an, wie sie gestaltet wird. Im Prinzip profitieren Banken von höheren Zinsen eher als dass sie darunter leiden. Aber klar ist: Wenn Zinsschritte negative Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben, leiden irgendwann auch die Bankbilanzen. Und wenn man in der Funding-Struktur unvorsichtig war, kann man auch Risiken haben. Aber mein Eindruck ist, dass den Zentralbanken das sehr klar ist und man sehr vorsichtig beim Ausstieg vorgeht. Das Dilemma ist eher, noch in einer guten Zeit aus der Niedrigzinsphase herauszukommen.
Von dem Hamburger Reeder Bertram Rickmers stammt der Ausspruch: „Grier frisst Hirn“. Gilt das auch heute noch? Oder achten Banker und Manager jetzt stärker auf Risiken?Wer sich die Finger verbrannt hat, ist ein paar Jahre lang vorsichtiger. Aber wer frisch von der Uni kommt, will etwas Neues ausprobieren. Eine neue Banker-Generation wird immer wieder neue Risiken eingehen. Banker wird man, weil man Geld verdienen will. Deswegen kommt es darauf an, Systeme und Prozesse in den Banken zu installieren, die das persönliche Gedächtnis in Regelungen und Abläufe transformieren. Institutionell geht das über Aufsichtsregeln, aber auch über Aufsichtshandeln. Aber ganz besonders natürlich über das Risikomanagement der Banken.
Ist das heute gegeben?Ich glaube ja. Es gibt funktionierende Risikomanagement-Systeme der Banken. Und auch die Aufseher von EZB, Bundesbank und Bafin sind sich der Risiken heute sehr bewusst. Weil so viele Fesseln angelegt wurden, gehen Leute, die ein größeres Rad drehen wollen, heute in den Bereich der Schattenbanken. Und der ist deutlich weniger reguliert.
Ist die Krise der deutschen Landesbanken hinreichend aufgearbeitet worden?Es hat Untersuchungsausschüsse gegeben, noch und nöcher. Das geht dann immer sehr schnell in die Frage: Welcher Minister oder welcher Senator welcher Partei hat zu welchem Zeitpunkt was falsch gemacht. Ob wirklich in der Tiefe verstanden worden ist, warum hier so vieles schiefgelaufen ist, bezweifle ich.
Lässt sich das noch aufarbeiten?Irgendwann geht die Zeit darüber hinweg. Bei der HSH gibt es ja noch einen offenen Prozess. Ich habe aber meine Zweifel, ob man das mit den Mitteln des Strafrechts in den Griff bekommt. Man kann nur hoffen, dass alle wirklich verinnerlicht haben, wo die Wurzeln der Probleme liegen und so sorgfältig mit ihrer Verantwortung umgehen, dass wir nicht in einer nächsten Finanzkrise oder in einem nächsten Abschwung eine Neuauflage erleben.
Wie werden Hamburg und Schleswig-Holstein mit dem Abstand von vielleicht 20 Jahren das Abenteuer Landesbank in Erinnerung behalten?In sehr schlechter, weil es ihre Bilanzen ruiniert hat. Und ich denke, dass sich beide Länder auf ein solches Abenteuer in diesen zwanzig Jahren nicht wieder einlassen werden. So lange zumindest wird das kollektive Gedächtnis reichen.
Das Gepräch führten Moritz Döblerund Philipp Jaklin.
Thomas Mirow
wurde 1953 in Paris geboren. Nach dem Studium in Bonn wurde er Büroleiter von SPD-Chef Willy Brandt. Er bekleidete mehrere Posten im Hamburger Senat, unter anderem als Wirtschaftssenator, war Staatssekretär im Bundesfinanzminsterium und Präsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London. Seit 2013 ist er Aufsichtsratsvorsitzender der HSH Nordbank.