Gefährdete Fundgrube Zu Besuch in einer der letzten Videotheken in Bremen

Olaf Ernsting betreibt einen Laden, bei dem sich selbst die Kunden wundern, dass es ihn noch gibt. Während überall Geschäfte schließen, führt er eine der letzten Bremer Videotheken. Wieso tut er sich das an?
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Zu Besuch in einer der letzten Videotheken in Bremen
Von Nico Schnurr

Sie weiß, wo sie hin will. Silvia Thöne steuert die Horrorecke an. Sie muss sich nicht groß orientieren, ohne Umwege geht sie vorbei an den Thrillern und Actionfilmen. Bei der Sciene-Ficition-Ecke biegt sie rechts ab, dann steht die kleine Frau, 32, randlose Brille, Kurzhaarfrisur, vor einem Regal, das sie überragt. Ihr Blick wandert durch die Reihen, streift Film für Film, bis er an einem düsteren Cover kleben bleibt. Darauf ein Mann, dessen Kopf in einem Kasten steckt. „Saw 5“, zehn Jahre alt, ein Splatterfilm, die brutalere Ecke, nicht jugendfrei. Thöne grinst. Den hat sie gesucht.

Die anderen Filme der Reihe hat sie gerade erst ausgeliehen, vier Teile in drei Tagen, jetzt der nächste. So macht sie das regelmäßig. „Im Fernsehen läuft ja nichts, also leihe ich mir DVDs aus“, sagt sie so selbstverständlich, als wären Streamingdienste noch nicht erfunden worden. Thöne winkt ab und lässt einen blauen Chip mit der Nummer des Horrorfilms über den Tresen wandern. „Meine Freunde fragen mich, warum ich nicht einfach Netflix schaue“, sagt sie, „da habe ich aber keine Lust drauf, mir egal, ob das altmodisch ist, ich gehe lieber in die Videothek.“ Der Mann hinter dem Tresen nickt. Solche Sätze gefallen ihm. Er hört sie nur immer seltener.

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Olaf Ernsting betreibt einen Laden, bei dem sich selbst die Kunden wundern, dass es ihn noch gibt. Kaum einer, der nicht vorsichtig nachhakt, ob sich das denn wirklich noch lohnt, bevor er sich hier eine neue Kundenkarte ausstellen lässt. Nicht, dass die einen Monat später schon wertlos ist, weil Ernsting aufgibt. Das fragen sie ihn ständig: Schließt du auch bald? Ja, antwortet Ernsting dann, wir schließen um 22 Uhr. Und dann öffnen wir morgen wieder.

Es gibt nicht mehr viele Videotheken im Bremer Stadtgebiet, für die das gilt. Jedes Jahr werden es weniger, eine Branche siecht dahin. Videotheken verschwinden aus dem Stadtbild, eine nach der anderen. Übrig sind nur noch zwei; eine in Hastedt, die andere in Findorff: Video Boxx, der Laden von Olaf Ernsting. Und eigentlich will man ihn fragen: Wieso tut er sich das noch an? Wie kann er heute noch eine Videothek betreiben, in Zeiten von Streaming und Netflix, in denen manche vermutlich nicht mal mehr wissen, was eine DVD überhaupt ist?

Wie es schon immer in Videotheken ausgesehen hat

Ein Dienstagmittag im Dezember, Fürther Straße. Ein paar Treppenstufen geht es hoch, dann betritt man einen Raum, der zeitlos wirkt. In Ernstings Videothek sieht es aus, wie es irgendwie schon immer in Videotheken ausgesehen hat, nur neuer halt. Grauer Teppichboden, grelle Leuchtröhren an der Decke. Weiße Regale, die verwinkelte Gassen bilden. Links und rechts Filme, blaue Hüllen, bunte Coverbilder, davor die Chips mit den Nummern, die man am Tresen vorzeigen muss. Darüber hängen Schilder, die den Filmen Genres zuordnen, Action, Komödie.

Und noch weiter oben, knapp unter der Decke, prangen die Poster, Plakate aktueller Produktionen. So oder so ähnlich kennt man das schon ewig. Und so ist das auch mit diesem Videotheken-Geruch. Videotheken riechen alle gleich, etwas muffig, irgendwie nach Plastik, aber nicht so sehr, dass es wirklich stören würde. Immer schon so gewesen und wird wohl immer so sein, solange es noch Läden wie die Video Boxx gibt, hinter deren Tresen nun Inhaber Olaf Ernsting steht und erklärt, dass es schon irgendwie weitergehen werde. „Natürlich mache ich mir Sorgen“, sagt er, „aber noch stimmen die Zahlen einigermaßen.“

Ernsting, 50, roter Kapuzenpullover, die Haare leicht ergraut, zählt auf: einige Neukunden auch in diesem Jahr, 50 Kunden selbst an schlechten Tagen, die Hälfte davon der harte Kern, der hier täglich aufschlägt. „Das ist doch was, oder?“ Kurze Pause. Dann beantwortet sich Ernsting die Frage einfach selbst. „Es ist schon weniger geworden“, sagt er, „das lässt sich ja nicht wegdiskutieren.“

Allein zwischen 2014 bis 2018 ist die Zahl der Videotheken in Deutschland auf weniger als ein Drittel geschrumpft. Nur noch 440 statt mehr als 1500 Betriebe. Zehn Jahre zuvor waren es noch 3000.

Eine Flaute in Hollywood

Natürlich hat Ernsting die Nachrichten verfolgt, hier eine Filiale, die dichtmacht, dort ein Betreiber, der hinschmeißt. Doch das alles scheint ihm lange weit weg. Bis zum Jahr 2018, als plötzlich auch seine Zahlen einbrechen. Eine Flaute in Hollywood, kaum Blockbuster in den Kinos, „und wenn Hollywood nicht liefert, stehe ich blöd da“, sagt er. Dazu ein Sommer, der nicht enden will, obendrein eine Fußball-Weltmeisterschaft, „klar, dass da kaum jemand auf die Idee kommt, Filme bei mir auszuleihen“. 2018, ein Jahr als „komplette Katastrophe“.

Aus den Lautsprechern in Ernstings Laden rieselt jetzt Radiopop aus den 1980er-Jahren, Toto, Cyndi Lauper. Songs aus der Hochzeit der Videotheken. Damals eröffnen Ernstings Eltern ein kleines Verleihgeschäft in Delmenhorst. Bald vergrößern sie sich, es läuft gut, die Zahlen stimmen. Ernsting kennt sie noch heute: Allein am Tag vor Heiligabend im Jahr 1989 hat die Familie 997 Filme verliehen. Er hat sogar die Nummern behalten, unter denen die Bestseller des Jahres damals bei ihnen im Kassensystem gelaufen sind.

Batman, Nummer 10.333; Zurück in die Zukunft 2, 10.575; Ghostbusters, 10.585. Ernsting rattert das runter, er könnte ewig so weitermachen, den ganzen Katalog von damals durchgehen. Hat er alles nicht vergessen. Vielleicht, weil er den Laden ein Jahr darauf übernommen hat. Vielleicht, weil es nie wieder so gut laufen sollte wie im Jahr 1989. Vielleicht, weil es damals diesen übermächtigen Konkurrenten noch nicht gegeben hat.

Früher sind es die Leute gewesen, die zu den Filmen gehen mussten, weil die nicht einfach von selbst zu ihnen gekommen sind. Heute gibt es Streaming-Dienstleister, Netflix, Prime, alles online, alles immer abrufbar. Dazu noch die illegalen Anbieter im Netz, bei denen es die Filme kostenlos zu sehen gibt, obwohl das verboten ist. „Die Leute sind faul geworden, seit es das Internet gibt“, sagt Ernsting. Er schiebt es auf die Bequemlichkeit, anders kann er sich nicht erklären, warum sich die Leute gegen ihn und fürs Streaming entscheiden.

Ernsting hat über 6000 Filme im Angebot, Blockbuster und Arthouse, Klassiker und Kram für Kenner, ein Archiv der Popkultur. Eine der letzten filmischen Fundgruben der Stadt. Und Netflix und die anderen? „Die Filmhistorie wollen die ganz sicher nicht bewahren“, sagt Ernsting, „deren Sortiment ändert sich doch ständig.“ Er habe die Neuheiten schneller im Angebot als die Konkurrenz im Netz, seine Angebote seien günstiger. Bei ihm gebe es persönliche Empfehlungen, die Streaming-Plattformen hätten bloß Algorithmen. Und trotzdem kämpft Ernsting einen Kampf, den er kaum gewinnen kann. Die eine Branche wächst, die andere schrumpft. Und Ernsting steht eben auf der falschen Seite des Trends.

Mit Weihnachtskrawatte hinterm Tresen

Er wehrt sich dagegen, mit den Möglichkeiten, die sich einem Videotheken-Inhaber bieten. Auf Whatsapp informiert er über neue Filme, auf Facebook teilt er Fotos aus dem Laden: ein geschmücktes Regal, eine Oscar-Figur im Weihnachtsmantel. An Heiligabend wird er selbst mit Weihnachtskrawatte hinterm Tresen stehen. Davor wird er wie immer eine Wand aus Snacks aufbauen, Schokoriegel, Weingummis. Dazu der Kühlschrank mit Getränken, die Kühltruhe mit Eiscreme, ein Nebenverdienst. Noch wichtiger ist nur der Versandhandel.

Seit es mit den Filmen nicht mehr so läuft, nimmt Ernsting Pakete an. In seinem Büro, gleich hinterm Tresen, schichten sich die Kartons bis unter die Decke, alles Waren aus dem Online-Shopping. An manchen Tagen kommen mehr Päckchen im Laden an als Filmkunden. Das Internet hat Olaf Ernsting das Leben schwer gemacht. Jetzt soll es ihm beim Überleben helfen.

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