
Die kleine Frau in den abgerissenen Kleidern müsste eigentlich gute Geschäfte machen: Auf dem Marktplatz wimmelt es von Menschen. Doch sie hat keine Chance. Kaum jemand will ihr eine „Zeitschrift der Straße“ abkaufen, die Leute sind von den Ereignissen um sie herum in Anspruch genommen. Auf der Bühne legen sich die „Blindfische“ ins Zeug und singen einmal mehr „Alle meine Entlein“, vorher haben alle auf die Leinwand geschaut. Dort war zu sehen, was sich zeitgleich im Rathaus abspielte. Bundespräsident Joachim Gauck sprach darüber, wie gut es sei, dass es die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) gibt.
Und nun wird es nicht mehr lange dauern, bis er in persona erscheint. Hier draußen wird er die Hauptrolle allerdings an seine Lebensgefährtin Daniela Schadt abtreten. Ihr obliegt es, das sich stolz über den Platz erhebende Seenotrettungsboot SRB 65 auf den Namen „Henrich Wuppesahl“ zu taufen. An den Absperrungen stehen vor allem ältere Semester, die sich einen Blick auf das deutsche Staatsoberhaupt und seine First Lady erhoffen.
Wer auch wartet, das sind die Männer von der DGzRS-Station in Neustadt an der Lübecker Bucht, wo die „Henrich Wuppesahl“ ihren Liegeplatz haben wird. Die Station gibt es seit 23 Jahren, von den 26 Seenotrettern stehen in diesem Augenblick 20 auf dem Marktplatz. Drei von ihnen werden das Boot über Nordsee, Nord-Ostsee-Kanal und Ostsee zu seinem Bestimmungsort bringen, darunter der 2. Vormann Johannes Heyne. Die Überführung beginnt am Donnerstag, die Männer werden zwei Tage unterwegs sein. Die Holsteiner sind häufiger in Bremen, die Aus- und Fortbildungen finden hier in der DGzRS-Zentrale statt. Heyne mag Bremen. „Die Weser, die gepflegte Altstadt, dass es hier noch eine Straßenbahn gibt und dass es offensichtlich eine Fahrradstadt ist“, zählt Heyne auf, was die Stadt in seinen Augen attraktiv macht.
Gegenüber der „Henrich Wuppesahl“ zieht die „August Grassow“ die Blicke auf sich und mehr noch auf die Männer, die vor und auf ihr stehen. Mit wettergegerbten Gesichtern unter Südwestern, mit dunklen Ölmänteln, Gummistiefeln und Rettungswesten aus Kork sehen sie aus wie Wesen aus einer Zeit, in der Männer noch richtige Kerle waren.
Sie sind Mitglieder des Vereins Historische Seenotrettung Horumersiel. Ihr Vormann heißt Wieland Rosenboom. Eine Frage an ihn, und es ist, als hätte man auf einen Knopf gedrückt: Rosenboom weiß alles über die 1906 auf der Werft Hermann Havighorst in Blumenthal gebaute „August Grassow“. Aus ihm sprudeln Worte wie „Ruderrettungsboot mit Hilfsbesegelung“, „kanneliertes Stahlblech“ und „Knickprofile“, bis dem unkundigen Zuhörer der Kopf schwirrt. Rosenbooms Verein jedenfalls hat das 8,50 Meter lange und 2,55 Meter breite Boot originalgetreu restauriert. Zu bewundern ist es – aber nur nach Anmeldung – im DGzRS-Stationsgebäude am Hafen von Horumersiel.
Ein paar Meter weiter kommen zwei Postler kaum zum Atemholen. Vor ihrem Stand reißt die Menschenschlange nicht ab, alle wollen nur das eine: die Sonderbriefmarke zum 150-jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). Der eine verkauft, der andere stempelt ab. Matthias Grusling (24) und seine Freundin Inken Peters (25) stellen sich geduldig in die Reihe. Der junge Mann kauft die 62-Cent-Marke, um sie nächste Woche seinem Vater zu schenken. „Nur so, weil er sich dann freut. Er ist Briefmarkensammler.“ Grusling junior ist von dieser Leidenschaft bislang nicht angesteckt worden. Er weiß nur, dass er sich noch einen Stempel holen muss und stellt sich abermals an.
Die Briefmarke ist für das Pärchen eine nette Beigabe zum eigentlich Zweck seines Besuches: Es ist wegen des Bundespräsidenten da. „Damit man ihn mal gesehen hat“, sagt Grusling.
Dann ist es soweit. Vor dem Haus der Bürgerschaft werden rote und weiße DGzRS-Luftballons in den Himmel entlassen. Sie schweben in Richtung Sögestraße davon und sind bald nicht mehr zu sehen. Der hohe Besuch wird durch eine Gasse zur Bühne geleitet. Ein paar Worte, dann bilden Seenotretter mit Tampen eine zweite Gasse zum neuen Seenotrettungsboot SRB 65. Wer zwischen diesen beiden Absperrungen steht, und es sind viele, befindet sich für etliche Minuten in einem Kessel. Sicherheitskräfte in Uniform und in Zivil passen höllisch auf, dass niemand aus der Reihe tanzt.
„Morgen“, sagt Gerhard Meier, „morgen bin ich bei Heike Götz – das ist die, die immer mit dem Rad durchs Fernsehen fährt.“ Jetzt aber steht der Mann aus Zeven auf dem Bremer Markplatz und nestelt aus seiner Jackentasche einen Schlüsselbund hervor, an dem ein längliches, unebenes Stückchen Holz baumelt. Ein kleines Beispiel für die Wanderstöcke, wie sie der 64-Jährige in Serie schnitzt. Und dann verrät er, dass er sein Geld einmal der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger vererben wird. „Das sind ein paar Tausend Euro“, sagt der ehemalige Molkereiarbeiter bedeutungsvoll. Er ist nach Bremen gekommen, weil er die Taufe des neuen Seenotrettungsbootes miterleben will. Meier ist nämlich auch Angler und hat bei Ostseefahrten zweimal miterlebt, wie die DGzRS Menschen in Not beistand. Seitdem hat er ein Herz für die Helfer und Retter.
Renate Petri hat mehr oder weniger der Zufall auf den Marktplatz geführt. Sie ist mit einer Freundin in einem nahe gelegenen Café verabredet. „Ich dachte, da könnte ich noch mal eben um die Ecke gucken“, sagt die Bremerin. Ein DGzRS-Mann mit einem Spendenschiffchen kommt vorbei. Die 54-Jährige öffnet ihr Portemonnaie, zieht einen Zehn-Euro-Schein hervor und versenkt ihn in das Behältnis. Es ist ihr vertraut, weil sie nicht zum ersten Mal gespendet hat. Petri: „Die DGzRS ist eine Organisation, die schon sehr lange eine sehr gute Arbeit macht.“ Sie selbst ist noch nicht in Not gekommen. Aber wenn sie durch das Watt wandere, sei es ein gutes Gefühl, von der Existenz der Seenotretter zu wissen. „Zumal ich nicht besonders gut schwimmen kann.“ Und nun muss sie los. Auf den Auftritt des Bundespräsidenten und seiner Lebensgefährtin verzichtet Renate Petri. Die Freundin wartet.
„Mach Platz!“ Doch Gordon Setter „Bella“ ist noch unentschlossen, ob sie ihrem Herrchen Matthias Kühl gehorchen soll. So viele Leute hier! Dann streckt sich das Tier doch bereitwillig, aber misstrauisch um sich blickend vor dem Seenotrettungsboot SRB 65 aus. „So ein schönes Schiff sieht man ja nicht alle Tage, schon gar nicht auf dem Bremer Marktplatz“, erklärt Kühl, warum er „Bella“ und die „Henrich Wuppesahl“ unbedingt auf einem Foto vereinen will. Der 39-Jährige ist beruflich da. Ihm gehört das Unternehmens, das für die Veranstaltungstechnik bei der DGzRS-Jubiläumsfeier in Bremens guter Stube verantwortlich ist. Der Ritterhuder hat das Erscheinungsbild der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger fest im Gedächtnis, weil er häufiger auf die Ostfriesischen Inseln fährt. „Da sind die ja praktisch allgegenwärtig, sie sind Teil der Bevölkerung.“
Miriam und Morten Heitmann schaukeln sanft den Kinderwagen, in dem ihr sechs Monate altes Baby Amira Lava liegt, während sie auf Bundespräsident Joachim Gauck und dessen Lebensgefährtin Daniela Schadt warten. Das Ehepaar gehört zu einer Gruppe Ehrenamtlicher, die für die DGzRS Hamburg arbeiten und auf keinen Fall die Taufe des neuen Seenotrettungsbootes versäumen wollen. Die Heitmanns – sie 28, er 34 Jahre alt – kennen Bremen von Schulungen, die sie in der DGzRS-Zentrale an der Werderstraße besucht haben. Welche Stadt gefällt ihnen besser: Hamburg oder Bremen? Die beiden wollen nicht unhöflich sein. Miriam Heitmann fasst zusammen, worauf sie und ihr Mann sich geeinigt haben: „Hamburg, meine Perle. Aber in Bremen ist es auch schön.“ Vielleicht gehen sie gleich noch shoppen, bevor sie mit dem Zug zurück an die Elbe fahren.
Ob Bahnhof, Marktplatz, Weserstadion oder Schlachte: Das Bremer Stadtbild hat sich im Laufe der Zeit erheblich verändert. Wir berichten über vergessene Bauten, alte Geschichten und historische Ereignisse.
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