
In Bremen wohnt die finanzielle Armut eher im Westen. In Gröpelingen beispielsweise – die Menschen dort leben von einem Durchschnittseinkommen von rund 17.000 Euro im Jahr. Gröpelingen ist seit jeher ein Arbeiter-Bezirk, ein Stadtteil der sogenannten kleinen Leute – die Häuser stehen Seite an Seite, fünf Zimmer auf 90 Quadratmetern und zwei Etagen.
Dazwischen gibt es Mietsblocks und Straßen, aus denen gewissermaßen die Farbe gewichen ist. Es gibt viele Kinder in Gröpelingen. Den Müttern sieht man ihre Sorgen an, Armut strengt an, sie sind jung gealtert. Rund ein Drittel der Gröpelinger sind arbeitslos, etwa 40 Prozent haben ausländische Wurzeln. Rund um die Ecke Gröpelinger Heer- und Lindenhof-Straße haben sich Woolworth und Ein-Euro-Shops angesiedelt, Spielotheken und Sportwettlokale. Vor den Türen der An- und Verkaufläden sind Einkaufstrolleys aufgereiht. „Merkel = = Krieg, Arbeiter, merkste watt?“ hat jemand an die strahlend weiße Wand eines Neubaus gesprayt.
Elke Janzon kennt Armut – ganz verschiedener Ausprägung. Sie leitet den Bewohnertreff der Wohnanlage Rostocker Straße. Sie erzählt von sozialer und von Bildungsarmut, von sehr jungen Frauen mit fünf bis sieben Kindern, von Bewohnern, die kein Deutsch sprechen. Und anderen, die es sprechen, aber noch lange nicht lesen und schreiben können. Sie berichtet von Kindern, die stundenlang ohne Aufsicht auf der Straße sind. Es gebe einige Familien, die lieber heute als morgen die Wohnanlage verließen, sagt Elke Janzon. Aber eine ähnlich große und preiswerte Wohnung sei kaum zu finden.
Großzügig lebt man am anderen Ende der Stadt, vielleicht alleine oder zu zweit in einer Villa, umgeben von einem parkartigen Garten. Alte Häuser, altes Geld, hohe Mauern. In Bremen gibt es keine Einkaufsmeile für die Superreichen mit Designerhandtaschen für mehrere tausend Euro, aber es gibt noble Boutiquen und Feinkostgeschäfte, Restaurants und Clubs, in denen die oberen Zehntausend meist unter sich bleiben.
Das Gefälle zwischen den Bewohnern Bremens spiegelt sich nicht nur in Wohnlagen und Einkommen, sondern in der gleichen Verteilung auch in einer Reihe weiterer Zahlen – Sozialleistungsbezug und Verschuldung, Bildungsniveau, Arbeitslosenquote und Anteil der Nichtwähler. In Gegenden mit überwiegend armen Menschen ist die Wahlbeteiligung niedrig, in bürgerlichen Stadtteilen mit überwiegend gut situierten Bewohnern traditionell hoch. Dazu zählen die Horner, nach der Einkommenssteuerstatistik leben sie im Stadtteil der Wohlhabenden – dort betrug im Jahr 2010 das durchschnittliche Einkommen laut Arbeitnehmerkammer mehr als 120.000 Euro im Jahr – das ist der bremische Spitzenwert und mehr als sieben Mal so hoch wie in Gröpelingen.
Zu vermuten ist, dass die Differenz bis heute, fünf Jahre später, noch größer geworden ist. Im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht, den der Senat im Januar vorgelegt hat, heißt es: „Zwischen den Ortsteilen der Stadt Bremen lässt sich eine große Spannweite der durchschnittlichen steuerlichen Einkünfte feststellen. Sie ist ein deutlicher Hinweis auf eine starke sozialräumliche Spaltung (...) Grob lässt sich ein Nordost-Südwest-Gefälle erkennen.“
Die Arbeitnehmerkammer beobachtet seit Jahren, wie sich die Schere zwischen Arm und Reich spreizt. „Das ist aber kein bremisches, sondern ein großstädtisches Problem“, sagt Thomas Schwarzer, Referent für Sozialpolitik. Von „Armutsstadtteilen“ will er nicht reden, allein der Anteil an Menschen mit wenig Einkommen sei beispielsweise in Gröpelingen höher als andernorts. „Dort gibt es auch ein Plateau der Mittelschicht.“ Die Differenz zwischen niedrigen und hohen Einkommen wächst jedoch, auch in Bremen. Schwarzers Kollege Jörg Muscheid, Referent für Wirtschaftspolitik: „Das leichte Wachstum beim Durchschnittseinkommen in Bremen ist vor allem vom Plus der Spitzeneinkommen getragen, bei den Einkünften bis 20 000 Euro pro Jahr ist kein wirklicher Fortschritt zu erkennen.“
Zudem verstärkt sich laut Arbeitnehmerkammer die räumliche Trennung von Arm und Reich: Menschen mit sehr gutem Einkommen zögen mittlerweile auch in die Neustadt, nach Findorff und die Östliche Vorstadt. Dadurch verändern sich erfahrungsgemäß die Viertel – wer die Mieten nicht mehr bezahlen kann, zieht dahin, wo es noch preisgünstigeren Wohnraum gibt: nach Walle, Gröpelingen oder Tenever. Um eine weitere räumliche Spaltung zu verhindern, müssten Sozialwohnungen gebaut werden – wie in der Überseestadt. Derartige Projekte sollten laut Muscheid verstetigt werden und über „Symbolpolitik hinausgehen“.
Es gibt auch konkrete Projekte: In Huchting soll ein „Modellvorhaben gegen Armut und Benachteiligung“ umgesetzt werden, Fördergebiete wurden festgelegt, wo die Anstrengungen konzentriert werden sollen. Tenever zählt hinzu (wie Gröpelingen, Huchting, Kattenturm, die Neue Vahr und neun andere Quartiere). Jörn Hermening ist Quartiersmanager in Tenever, wo etwa 6000 Menschen aus 90 Nationen wohnen, und ein Drittel auf staatliche Hilfe angewiesen ist. Oberneuland, „Bremens bestbeleumundete Wohngegend“, liegt „nur einen Spaziergang“ entfernt, sagt Hermening. „Den Menschen ist schon bewusst, dass sie hier vergleichsweise wenig haben. Vor allem von jungen Menschen wird kritisiert, dass das Geld so ungleich verteilt ist. Aber die Revolution wird hier nicht ausgerufen.“
Der Arbeitnehmerkammer sei wichtig, sagen Muscheid und Schwarzer, dass die Situation nicht beschönigt werde. Bremen nehme sich des Themas inzwischen auch an – nachdem lange an den Zahlen herumgedeutet worden sei, sagt Schwarzer. „Auf Landesebene gibt es aber nur geringe Einflussmöglichkeiten auf die Polarisierung der Einkommen.“ Der Kita-Ausbau, gerade in sozial benachteiligten Vierteln, die bislang auch bei der Verteilung von Betreuungsplätzen vernachlässigt worden seien, sei wichtig. „Bis sich das aber auf die Armutsquote auswirkt, dauert es eine ganze Reihe von Jahren.“
Jörn Hermening sagt: „Es ist ein Skandal, dass wir eine der reichsten Städte in Deutschland sind, aber gleichzeitig die meisten Armen hier leben.“ Es gebe aber auch eine ganze Reihe engagierter Oberneulander, die in Tenever mit Spenden helfen. „Geld haben ist an sich erst mal kein Verbrechen. Es kommt darauf an, dass man etwas Vernünftiges damit macht.“
Am 10. Mai wird in Bremen gewählt. In unserer Serie „Offene Wahl“ beschäftigen wir uns im Vorfeld mit den politischen Baustellen der Stadt und werden uns auf die Suche nach Lösungsansätzen begeben. Die 13-teilige Themenserie bietet Hintergrund und Analyse.