Amoktat in Hamburg Der Täter gab weit mehr als 100 Schüsse ab

Am Donnerstagabend fallen in Hamburg Schüsse. Bei dem Angriff in einem Gebäude der Zeugen Jehovas sterben mindestens acht Menschen. Inzwischen wurden bei einer Pressekonferenz neue Details zu der Tat bekannt.
09.03.2023, 22:25 Uhr
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Von dpa

Der mutmaßliche Todesschütze von Hamburg ist der 35 Jahre alte Philipp F. gewesen, ein Ex-Mitglied der Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas. Diese habe er vor eineinhalb Jahren freiwillig, aber offensichtlich nicht im Guten verlassen, sagten Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenbehörde am Freitag bei einer Pressekonferenz. Der Deutsche war demnach Sportschütze, hatte seit Dezember 2022 eine Waffenbesitzkarte und war erst kürzlich von der Waffenbehörde aufgesucht worden. Bei der Tat am Donnerstag starben sieben Menschen und der Täter selbst, acht weitere Menschen wurden verletzt. Zu den Toten zählt die Polizei auch ein ungeborenes Kind.

Innensenator Andy Grote (SPD) bezeichnete die Tat als Amoklauf: "Eine Amoktat dieser Dimension – das kannten wir bislang nicht. Das ist die schlimmste Straftat, das schlimmste Verbrechen in der jüngeren Geschichte unserer Stadt." Der mutmaßliche Amoktäter hatte mehr als 100 Mal geschossen. Bei den Todesopfern handelt es sich den Angaben zufolge um vier Männer, zwei Frauen und einen weiblichen Fötus im Alter von 28 Wochen. Die Männer und Frauen seien zwischen 33 und 60 Jahre alt, sagte der Leiter des Staatsschutzes der Polizei, Thomas Radszuzweit. "Alle Todesopfer sind deutscher Staatsangehörigkeit und starben jeweils durch Schusseinwirkung."

Polizei war innerhalb weniger Minuten am Tatort

Die tödlichen Schüsse fielen am Donnerstagabend gegen 21 Uhr während einer Veranstaltung im Gebäude der Gemeinde im Hamburger Stadtteil Alsterdorf. Binnen Minuten war die Polizei am Tatort: Um 21.04 seien die ersten Notrufe eingegangen. "Um 21.08 Uhr waren erste Kräfte vor Ort", sagte Grote. Nur eine Minute später, um 21.09 Uhr, sei die Unterstützungsstreife für erschwerte Einsatzlagen (USE) am Tatort gewesen.

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Die Einsatzkräfte retteten nach den Worten des Innensenators sehr wahrscheinlich etliche Menschenleben: "Wir haben es mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit dem sehr, sehr schnellen und entschlossenen Eingreifen der Einsatzkräfte der Polizei zu verdanken, dass hier nicht noch mehr Opfer zu beklagen sind."

Bis in den Freitagvormittag waren die Ermittler zur Spurensuche am Tatort unterwegs. Die Leichen wurden mittlerweile abtransportiert.

Waffenbehörde erhielt Hinweis auf mutmaßlichen Hamburger Amokschützen

Als Extremist war der mutmaßliche Schütze nach Angaben aus Sicherheitskreisen nicht bekannt. Seit dem 12. Dezember sei er im legalen Besitz einer halbautomatischen Pistole gewesen, sagte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer. Dabei habe es sich um die Tatwaffe gehandelt.

Die Waffenbehörde erhielt nach Angaben des Hamburger Polizeipräsidenten Ralf Martin Meyer im Januar einen anonymen Hinweis auf eine mögliche psychische Erkrankung von Philipp F.. Ziel des unbekannten Schreibers sei es gewesen, das Verhalten und die waffenrechtlichen Vorschriften in Bezug auf Philipp F. überprüfen zu lassen. Die unbekannte Person habe ferner geschrieben, dass die psychische Erkrankung von F. möglicherweise ärztlich nicht diagnostiziert sei, da sich F. nicht in ärztliche Behandlung begebe. F. habe laut dem Schreiben eine besondere Wut auf religiöse Anhänger gehegt, besonders auf die Zeugen Jehovas und seinen ehemaligen Arbeitgeber.

Insgesamt hat er neun Magazine à 15 Schuss verschossen.
Staatsschutz-Leiter Radszuweit

Die Beamten der Waffenbehörde hätten nach dem Hinweis weiter recherchiert. Anfang Februar sei F. von zwei Beamten der Waffenbehörde unangekündigt aufgesucht worden. Dies sei eine Standardkontrolle gewesen, die nach einem anonymen Hinweis erfolge. F. habe sich kooperativ gezeigt, sagte Meyer. Es habe keine relevanten Beanstandungen gegeben. Die rechtlichen Möglichkeiten seien damit ausgeschöpft gewesen.

Der 35-Jährige gab am Donnerstagabend mehr als 100 Schüsse ab. "Insgesamt hat er neun Magazine à 15 Schuss verschossen", sagte der Hamburger Staatsschutz-Leiter Radszuweit.

Angriff auf Zeugen Jehovas in Hamburg: Weitere Munition in Wohnung gefunden

Nach den Schüssen fand die Polizei laut Staatsanwaltschaft in der Wohnung des mutmaßlichen Täters auch eine größere Menge Munition. Der Leiter der Staatsanwaltschaft, Ralf Peter Anders, sprach von 15 geladenen Magazinen mit jeweils 15 Patronen und vier Schachteln Munition mit weiteren 200 Patronen. Außerdem wurden Laptops und Smartphones sichergestellt, die noch ausgewertet würden.

Mögliche Konflikte innerhalb der Glaubensgemeinschaft schließen die Ermittler nicht aus. Polizeipräsident Meyer sagte, es gebe Hinweise auf einen Streit "möglicherweise aus dem Bereich der Zeugen Jehovas". Das müsse geprüft werden, in den Akten habe man dazu nichts gefunden. Radszuweit sagte, die Frage von Streitigkeiten sei derzeit Gegenstand der Ermittlungen. Seinen Angaben zufolge hatte der Amokschütze Philipp F. die Hamburger Gemeinde vor anderthalb Jahren freiwillig verlassen, "aber offenbar nicht im Guten".

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Die Zeugen Jehovas zeigten sich in einer Erklärung "tief betroffen". Zahlreiche nationale und internationale Politiker reagierten schockiert und betroffen auf den tödlichen Vorfall, darunter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, äußerte sich "erschüttert" über die "menschenverachtende Gewalttat in Hamburg". Sein Gebet gelte den Verstorbenen, den Verletzten und den Angehörigen, schrieb der katholische Bischof am Freitag auf Twitter. "Wir trauern um Menschen, die unschuldig ihr Leben verloren haben. Es gibt keine Worte für dieses Verbrechen, das Leben ausgelöscht hat."

+++ Dieser Artikel wurde zuletzt am 10. März um 14.53 Uhr aktualisiert. +++

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Angriffe bei den Zeugen Jehovas

Versammlungsräume der Zeugen Jehovas sind auch in der Vergangenheit schon Ziel von Angriffen geworden – auch aus den eigenen Reihen oder durch ihnen verbundene Personen.

Spektakulär war der Fall eines Rentners aus Halle/Westfalen, der nach Feststellung eines Bielefelder Gerichts über Jahrzehnte einen Rachefeldzug gegen die Zeugen Jehovas geplant hatte, denen sich seine Tochter im Jugendalter zugewandt hatte. Im Juli 2009 überfiel der damals 81-Jährige mit einer illegal beschafften Waffe das Gemeindehaus der Zeugen Jehovas in Bielefeld und bedrohte die dort versammelten 81 Gläubigen. Es löste sich aber kein Schuss aus der Maschinenpistole; der Grund blieb auch im Gerichtsverfahren unklar. Das Gericht sprach den Rentner am Ende des 39-fachen Mordversuchs schuldig – genau 39 Patronen waren in seinen Magazinen.

Auf das Versammlungshaus der Zeugen Jehovas im nordrhein-westfälischen Menden wurde 2017 ein Brandanschlag verübt. Als mutmaßliche Täterin wurde ein Mitglied der Gemeinde festgenommen. Die 34-Jährige soll nach Überzeugung der Ermittler Grillanzünder an den Wänden des Hauses verteilt und kleine Brände gelegt haben. Es entstand lediglich geringer Schaden. Auslöser sei wohl ein Streit innerhalb der Gemeinde gewesen, hieß es bei der Staatsanwaltschaft.

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