Julia Frese
über direkte Demokratie
Die Einführung bundesweiter Volksentscheide ist längst überfällig. Sinkende Wahlbeteiligungen beweisen seit Jahrzehnten, dass es die Bürger nach etwas verlangt, das über die bisherige parlamentarische Demokratie hinausgeht. Ob die Zufriedenheit Politikverdrossener langfristig steigt, weil sie mehr einbezogen werden, ist aber eine andere Frage.
Wenn die Bürger zum ersten Mal bundesweit über ein konkretes politisches Projekt abstimmen dürfen, wird am Ende vermutlich knapp die Hälfte von ihnen enttäuscht sein. Schon jetzt zeigen die Ergebnisse von Volksentscheiden und Bürgerbefragungen in kleinerem Rahmen, dass es kaum Themen gibt, bei denen eine große Mehrheit gleich denkt. Der Vorteil jedoch wird sein, dass es nicht mehr so einfach sein wird, „die da oben“ für das Ergebnis verantwortlich zu machen. Und dass Nicht-Wähler sich nicht mehr damit herausreden können, nur deshalb zu Hause zu bleiben, weil man sich von „denen da oben“ ja ohnehin nicht vertreten fühlt.
Volksentscheide geben jenen, die in Parlamentariern vor allem korrupte und verlogene Gestalten sehen, die Chance, Politik wieder mehr über Inhalte zu definieren als über das vorhandene oder nicht-vorhandene Charisma der Kandidaten oder persönliche Verfehlungen. Funktionieren können Volksentscheide aber nur, wenn der Staat über die Themen, die zur Abstimmung stehen, transparent informiert. Und auch die Bürger sind gefordert: Sie müssen sich die Zeit nehmen, sich in Themen einzuarbeiten, mit denen sie bis dahin womöglich wenig zu tun hatten. Nur so können sie fundierte Entscheidungen treffen und vermeiden, dass direkte Demokratie schnell in Verruf gerät.
Bisherige Volksentscheide haben auch Überraschendes für Politiker ergeben. So erwarteten jene bei der Abstimmung über die Primarschule in Hamburg, dass der Plan von Linken, SPD, Grünen und CDU, die gemeinsame Grundschulzeit zu verlängern, von einer Mehrheit befürwortet werden würde. Beim Volksentscheid aber stimmten 54,5 Prozent der Beteiligten dagegen. Hätte allein das Parlament bestimmt, wäre Hamburg seitdem sicher um einige politikverdrossene Bürger reicher.
julia.frese@weser-kurier.de
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