
Als die Nymphen aus dem Museum verschwanden, setzte eine ungeahnte Hysterie auf der Insel ein. Sie verbreitete sich schnell von der Manchester Art Gallery im Norden Englands in das ganze Königreich. Einige Kritiker befürchteten, die Freiheit der Kunst sei in Gefahr, andere warfen den Verantwortlichen vor, die politische Korrektheit ins Absurde zu führen.
Im Zentrum des Feuersturms taumelte die Londoner Künstlerin Sonia Boyce. Sie war es, die das 1896 erstellte Gemälde „Hylas und die Nymphen“ des Briten John William Waterhouse aus der Manchester Art Gallery abhängen ließ. Darauf wird der Liebhaber des Gottes Herakles von sieben barbusigen Nymphen mit in einen Teich voller Seerosen gelockt.
Der Jüngling ist machtlos angesichts der Schönheit der Mädchen – so lautet die Botschaft der Szene. Warum musste das Gemälde einer leeren Wand Platz machen, auf der Besucher via Post-its ihre Meinung hinterlassen sollten? War dies der Anfang vom Ende?, wie ein Kritiker des „Guardian“ fragte. „Wird als nächstes Picasso aus den Ausstellungsräumen dieser Welt entfernt?“
Nun malten Waterhouse und Picasso zweifellos in unterschiedlichen Ligen, der Aufregung tat dies jedoch keinen Abbruch – auch wegen des Zeitpunkts Ende Januar. Gerade tobte die #MeToo-Debatte über Sexismus und Übergriffe auf Frauen. Dementsprechend wurde dem Museum nicht nur eine übertriebene politische Korrektheit vorgeworfen, sondern gleich Zensur. Hier zeige sich feministischer Extremismus „von seiner schlechtesten Seite“. Sonia Boyce traf die Empörung überraschend - war das Abhängen doch nur ihrer Idee für eine Kunstaktion geschuldet mit dem Ziel, mehr Menschen in den Kuratoren-Prozess einzubinden.
Zudem sollte die Performance Art lediglich einen Teil bilden für ihre nun eröffnete Ausstellung „Sonia Boyce – Retrospektive“, die sich mit ihrer Arbeit seit Mitte der 1990er Jahre beschäftigt und bis zum 22. Juli 2018 in der Manchester Art Gallery gezeigt wird. Sie wollte eine Diskussion über die Präsentation und Interpretation von Bildern sowie Gender-Fragen anstoßen.
Täglich würden in Museen, Gemälde ersetzt, abgehängt, aufgehängt. Zumeist träfen einzelne Kuratoren hinter verschlossenen Türen die Entscheidung. Aber nach welchen Kriterien und in welchem Kontext? Welche Stereotype, die unser Leben und die Gesellschaft prägen, spielen eine Rolle? Den Ablauf wollte Boyce hinterfragen und suchte mit der Aktion den Dialog mit den Museumsmitarbeitern, anderen Künstlern sowie den Besuchern.
Was soll an die Wand, was nicht, warum? Damit machte die Londoner Künstlerin das, was sie stets macht: eine Verbindung zwischen Kunst und Gesellschaft herstellen, das Publikum einbeziehen, Klischees aufbrechen, Vorurteile entlarven. Gibt es bei Gemälden aus dem 19. Jahrhundert auch andere Narrative als die Darstellung der weiblichen Figur als todbringende Verführerin oder als unterwürfiges Objekt? Wie es damals zum Abhängen des Bildes kam und den anschließenden Skandal hat die Britin in dem Film „Six Acts“ verarbeitet, der erstmals in der Schau präsentiert wird. Wer wegen John William Waterhouse nach Manchester reist, kann auch beruhigt sein: Die Nymphen hängen wieder.
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