
Ihr Roman „Rechtswalzer“ ist ein düsterer Blick auf die Zukunft Ihrer Heimat Österreich. Angenommen, er wäre eine Prognose: Wie sieht das Land im Jahr 2024 aus?
Franzobel: Eine neue Partei namens Limes wird die Macht übernommen, sich wie eine Käseglocke über das Land gestülpt haben. Europa soll abgeschafft, die Grenzen geschlossen, die Opposition verboten werden. Diese Regierung hat also sehr offensichtlich diktatorische Züge, sie raubt den Menschen den freien Atem.
Seit gut einem Jahr wird Österreich von der rechtspopulistischen FPÖ mitregiert. Erst vor ein paar Tagen sagte Innenminister Herbert Kickl: „Das Recht hat der Politik zu folgen und nicht die Politik dem Recht.“ Ist die Wirklichkeit noch irrer als alles, was Sie sich ausgedacht haben?
Ich hatte beim Schreiben tatsächlich manchmal den Eindruck, dass die Realität mich überholt. Ich hatte das Buch ursprünglich als Roman über die Gegenwart konzipiert, über die momentane österreichische Regierung. Aus literarischen Gründen habe ich die Handlung dann doch in die Zukunft verlegt – mit einer noch extremeren Politik. Trotzdem sind sehr viele Parallelen zur gegenwärtigen Situation erkennbar.
Ihr Buch liest sich wie ein Gedankenexperiment über die Frage, wie es einem Normalo ergehen könnte, wenn die politische Situation sich weiter zuspitzt. War das Ihre Absicht?
Zum einen, ja. Zum anderen ging es mir um dieses Hiob-Motiv. Die Hauptfigur, Malte Dinger, ist ein moderner österreichischer Hiob: ein Mensch, der auf die Butterseite des Lebens gefallen ist, dem plötzlich schreckliche Dinge passieren, dem das Leben schwere Prüfungen auferlegt, von denen die politische Entwicklung eine ist. Es ist eine Spirale des Negativen, in die er da unversehens hineingerät. Er hat keine Chance, da irgendwie rauszukommen. Und im Gegensatz zum biblischen Hiob hat er nicht einmal einen Gott, an den er glauben könnte, irgendein System, das ihn trösten könnte.
Dinger ist Mitte 40, glücklich verheiratet, hat einen passabel geratenen Sohn, einen gut laufenden Getränkehandel. Was passiert dann?
In der U-Bahn gerät er in eine Fahrscheinkontrolle und hat seine Monatskarte nicht dabei. Ein Wort ergibt das andere und er landet in Untersuchungshaft. Dort wird er dabei erwischt, wie er einen Schnaps trinkt, was er eigentlich nur aus Höflichkeit tut. Er wird in eine Einzelzelle gebracht, bekommt ein Disziplinarverfahren. Ein Mithäftling, ein österreichischer Lobbyist, wird erhängt aufgefunden, Dinger wird verdächtigt und des Mordes für schuldig befunden. Obwohl er vollkommen unschuldig ist, landet er wegen dieser blöden Fahrscheinkontrolle lebenslänglich im Gefängnis. Zumindest glaubt er das.
Könnte man nicht sagen: Ist ja komplett übertrieben, so viel Pech kann doch keiner haben?
Ich habe im österreichischen Gefängnis recherchiert. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass rund zehn Prozent der Häftlinge unschuldig im Gefängnis sitzen. Trotzdem haben sie relativ geringe Chancen darauf, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt, oft müssten sie sich sogar schuldig bekennen, um ein Recht auf Hafterleichterung zu haben. Dass man wegen einer Obrigkeitsmissachtung in U-Haft landen kann, entspricht also schon jetzt der Realität. Und dass man durch die Summe vieler unglücklicher Umstände immer tiefer fällt, weil die Parallelwelt Gefängnis natürlich ganz eigene Dynamiken besitzt, das ist durchaus denkbar. Natürlich überzeichnet Literatur immer. Aber: Unmöglich ist das nicht.
Erdrückend ist vor allem Dingers Ohnmacht. Finden Sie, die Österreicher wehren sich zu wenig?
Der Österreicher ist ja per se ein passiver Mensch. Er lässt die Dinge eher über sich ergehen, als dass er gegen sie aktiv wird. Gleichzeitig muss ich aber sagen: Es gibt ja prinzipiell wenige Alternativen zu dieser Ohnmacht. Jede Option, die sich jetzt anböte, würde zu einer Verschlimmerung der persönlichen Situation führen. Auf kleinster Ebene könnte Dinger vielleicht dagegen anreden, aber sich wirklich zu wehren, diese Möglichkeit hat man in einer beginnenden Diktatur nicht. Diese Ohnmacht hat mich erschüttert, deshalb wollte ich von ihr erzählen.
Sie finden es verständlich, dass Dinger nicht protestiert?
Ja. Ich verurteile selten das Verhalten meiner Figuren. Ich beobachte sie eher. Ungefähr so, wie ein Insektenforscher das Verhalten eines Käfers beobachtet. Also neutral.
An einigen Stellen liest sich Ihr Buch, als hätten Sie wütend in die Tasten gehauen. Stimmt das?
Eigentlich sind dieses dystopische Moment und die politische Lage erst später hinzugekommen. Mein Grundimpetus war, über den Wiener Opernball zu schreiben. Den kann man ja nicht ganz ernst nehmen, der ist ja von vornherein eine Satire über die bessere Gesellschaft. Und für diese Satire brauchte ich ein Gegengewicht. Jemanden, der ganz unten landet, im Gefängnis. Und so ist dieses Buch vom Satirekrimi zu etwas ganz Anderem geworden. Weder der Verlag noch ich wussten so genau, wo es hingeht und wie man das nun nennt, Krimi, Roman oder eine völlig neue Form. Ist mir aber eigentlich auch egal. Es ist halt ein Buch.
Neben Dingers Geschichte gibt es einen weiteren Handlungsstrang. Kommissar Falt Groschen, den ihre Leser schon aus zwei anderen Krimis kennen, ermittelt in einem skurrilen Fall. Was ist passiert?
Ein Witwentröster wird tot aufgefunden, ein Mann also, der davon lebt, reiche verwitwete Frauen auszunehmen. Groschen übernimmt die Ermittlungen – und stößt auf viele Verfilzungen in der österreichischen Gesellschaft.
Seinen Höhepunkt findet der Roman dann auf dem schon erwähnten Opernball...
Auf dem Ball laufen alle Erzählstränge zusammen und es gibt einen großen Showdown. Auf der einen Seite nutzt die neue Regierung den Ball, um sich in großem Stil zu inszenieren und ein neues rechtes Europa auszurufen, auf der anderen Seite gibt es Versuche, das Event zu sprengen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Warum ausgerechnet der Opernball?
Weil ich selbst ihn aus so vielen verschiedenen Blickwinkeln kennengelernt habe. In den späten 80er-Jahren habe ich gegen ihn demonstriert, später war ich für den österreichischen Rundfunk als Kabelträger dabei, dann war ich mehrfach als Gast eingeladen. Und immer habe ich gedacht: Irgendwann musst du das alles mal textlich verarbeiten – allein schon, um vor mir selbst rechtfertigen zu können, dass ich überhaupt hingehe.
Ist das so eine Autounfall-Faszination?
In meinem Buch heißt es, der Opernball ist das Dschungelcamp Österreichs – das trifft es vielleicht ganz gut. Da gibt es diesen wahnsinnig reichen Wiener Baumeister, der irgendwelche halbprominenten Damen einkauft, um sie über den roten Teppich zu schleifen. Und die versammelte österreichische Semiprominenz zelebriert diese längst vergangene kaiserlich-königliche Kultur, der das ganze Land noch immer irgendwie nachtrauert. Ein ganz seltsamer Sehnsuchtsort.
Das Gespräch führte Katharina Frohne.
Franzobel,
der eigentlich Franz Stefan Griebl heißt, wurde 1967 in Vöcklabruck, Oberösterreich, geboren. Für seine Romane wurde er unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.
Franzobel: Rechtswalzer. Zsolnay, Wien. 416 Seiten, 19 €.
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