
Natürlich, musste ja so kommen. Es hat auch in Dresden nicht wirklich jemand mit anderen Bildern gerechnet. „Beschämend, traurig“, lässt die Landesregierung noch am Montagmittag verbreiten.
Es ist passiert, vor dem Festgottesdienst zum Tag der Deutschen Einheit in der Frauenkirche. Und danach auch.
Draußen gießt es, der Neumarkt um die Kirche, eine nachgebaute historische Häuserszene, ist abgesperrt. Überall Polizisten, sogar auf den Dächern entlang der Willsdruffer Straße. Und vor der Kirche: Pegida. Ein kleines Häuflein der selbsternannten Retter des Abendlandes, ein paar Dutzend zunächst, unter ihnen auch der Anführer Lutz Bachmann, ein mehrfach vorbestrafter Einbrecher, Drogendealer und Volksverhetzer. Viele sind es ja nicht mehr, die ihm hinterherlaufen, seit sich die „wahren Volksvertreter“ zerstritten haben. Aber es reicht immer noch für hässliche Auftritte, die den Ruf der alten Barockstadt weiter beschädigen. Als Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Joachim Gauck die Kirche betreten, schreien sie: „Merkel muss weg!“ Sie buhen und pfeifen. „Volksverräter“.
Das übliche Gebrüll
Es ist das übliche Gebrüll eigentlich an Montagabenden in Dresden, wenn sich das geschrumpfte Wutmenschenvolk in der Altstadt trifft und seinem Was-auch-immer freien Lauf lässt. Seit Herbst 2014 geht das so, mit mehr oder weniger Beteiligung, zum Schluss nur noch sehr wenig, der harte Kern, 2000 bis 3000 Leute. Und nun auch am Tag der Einheit, wo alle Kameras auf Dresden gerichtet sind. Für Pegida ist der Tag eine belebende Infusion, ein echtes Geschenk; für Dresden, für die vielen anderen Bürger, die engagierten und die vielen, denen schon lange egal zu sein scheint, was Pegida in Dresden anrichtet, für Politik, Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft, für all die anderen wird er eine Katastrophe.
Sie hatten es genau so befürchtet. Im Berliner Kanzleramt, im Präsidialamt, in der Dresdner Staatskanzlei. Es genügt eine kleine Menge hasserfüllter, enthemmter und verrohter Leute, um hässliche Bilder zu erzeugen, die um die Welt gehen werden und die ganze Feier in ein trübes Licht stellen. Und solche Bilder gibt es an diesem Montag ohne Zahl. Als ein dunkelhäutiger Gast, der zum Gottesdienst will, die Treppenstufen zur Frauenkirche hinaufgeht, ist der Tiefpunkt erreicht: Es ertönen Affenlaute im Publikum, einige rufen „Abschieben“. So geht Pegida. Lange schon.
„Wir leben in unruhigen Zeiten“, sagt Sachsens Landesbischof Carsten Rentzing in der Frauenkirche, wo sich die Spitze der deutschen Politik an diesem Morgen trifft. „Die Unruhe greift nach uns“, sagt der Bischof. Er spricht von Unfrieden im Land, von einem gespaltenen Europa, vom Terrorismus, der Misstrauen sät, vom Hass, der in sozialen Netzwerken wuchert und die Menschen vergiftet. Er spricht davon, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit mehr ist.
Und als der Gottesdienst nach einer Stunde vorbei ist, warten draußen Hunderte Pegidisten. Das Geschrei ist lauter. „Merkel muss weg!“ Es wird gebuht, immer wieder ruft jemand „Volksverräter“. Bundespräsident Gauck hat das schon ein paar Mal erlebt in Sachsen, ob in Bautzen oder Görlitz. Wo immer er zu Besuch war, erwartete ihn ein Häuflein Pöbler.
Unruhige Zeiten, der Tag der Einheit wird so auch zum Tag der innerdeutschen Bestandsaufnahme. Hässlich, schonungslos, ehrlich. „Der Streit gehört dazu“, sagt Frank Richter. Der ehemalige Pfarrer steht am Theaterplatz. Er ist so etwas wie der Streitschlichter in ganz komplizierten Dresdner Angelegenheiten. Wenn gar nichts mehr ging in Dresden, holte man stets Frank Richter. So etwas müsse man aushalten und überwinden, sagt er. Richter hat sich monatelang abgemüht mit den angeblich „besorgten Bürgern“, hat ihnen Gelegenheiten verschafft, Dampf abzulassen. Er hat versucht, die gerissenen Fäden zwischen den Pöblern und der Politik wieder zu verknüpfen. Er hat sich bemüht, Gesprächskultur zu retten. Er hat es versucht. Überwunden ist nichts in Sachsen. Im Gegenteil.
Als Kanzlerin und Präsident mitsamt Gefolge in Bussen und Staatskarossen vor der Semperoper eintreffen, wo am Mittag der Staatsakt über die Bühne gehen soll, wieder das gleiche Bild: Pfiffe und Buhrufe, junge Kerle in Neonaziklamotten. Ein sächsischer Bergmannschor empfängt die Gäste auf dem Theaterplatz. Sogar die Musiker werden beschimpft, weil sie den Gästen zum Empfang freundlich aufspielen. Rathaus und CDU/SPD-Landesregierung haben versucht, sich einigermaßen zu wappnen. Die Innenstadt wurde abgeriegelt, zehn Kilometer Zäune gezogen, 2600 Polizisten zusammengeholt. Höchste Sicherheitsvorkehrungen. Es wurden Tausende Betonquader quer über Straßen und entlang des Elbufers verlegt, sogeannnte Nizza-Sperren, Barrieren gegen mögliche Lastwagen-Angriffe islamistischer Terroristen.
Es hat vorher zwei Brandanschläge gegeben, einen gegen eine Moschee, einen beim Dresdner Kongresszentrum, die Täter sind noch nicht ermittelt. Ministerpräsident Stanislav Tillich (CDU) hat stets verkündet, man freue sich auf den Tag der Einheit in der sächsischen Landeshauptstadt. Und gleichzeitig hat man ihn herbeigefürchtet. Er sei „gelingbar“, hatte Tillich vergangene Woche gemeint, als er nach den Aussichten zum Tag der Einheit gefragt wurde. Dabei gab es tatsächlich viel Gelungenes an diesem langen Wochenende. Wenn es mal nicht regnete, war es richtig schön in der Altstadt. Tausende feierten, es gab Konzerte, es gab eine Ländermeile mit Zelten, Jazzmusik und Programmen, es gab mitten im Zwinger eine Kaffeetafel für 300 ehrenamtlich Engagierte aus ganz Deutschland. Und natürlich Wein und Bier aus allen Regionen der Republik. Abends war die Altstadt in buntes Licht getaucht und es wurde, ja, tatsächlich gut gelaunt und entspannt gefeiert. Einerseits.
Die Menge pfeift und buht im Regen
Andererseits: Draußen auf dem Theaterplatz gießt es, die Menge pfeift und buht. Drinnen in der Semperoper hält Bundestagspräsident Norbert Lammert eine Lammert-typische muntere Rede zum Tag. Er sortiert ein und rückt alles ein bisschen zurecht: „Vieles ist uns gelungen, manches offenbar besser als anderen“, sagt er. „Wir leben in Verhältnissen, um die uns fast die ganze Welt beneidet.“ Und deshalb könnten die Deutschen durchaus „etwas mehr Selbstbewusstsein und Optimismus zeigen“. Und wohl auch an die johlende Menge vor der Oper gerichtet, sagt er: Wer „das Abendland gegen tatsächliche und vermeintliche Bedrohungen verteidigen will, muss seinerseits in dieser Auseinandersetzung den Mindestansprüchen der westlichen Zivilisation genügen: Respekt und Toleranz üben.“
Die Rede wird auf einen Großbildschirm vor der Oper übertragen, aber Lammerts Worte gehen oft unter. Sie verlieren sich im Regen und im Pfeifen und Schreien derer, die sich für das „wahre Volk“ halten.
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