
Der britische Premierminister Boris Johnson liebt diese Taktik, sie wird die „Tote-Katze-Strategie“ genannt und funktioniert so: Wenn ein ungeliebtes Thema zu viel Aufmerksamkeit erhält, ist es das Beste, „eine tote Katze auf den Esszimmertisch zu werfen“, wie Johnson einmal in einem Artikel erklärte. Was er meinte: Man muss für Ablenkung sorgen.
Auch die Scottish National Party (SNP) scheint sich dieser Strategie verschrieben zu haben. Sobald hier und jenseits des Hadrianwalls Kritik aufkommt, wirft die Erste Ministerin Nicola Sturgeon eine tote Katze auf den Tisch. Ob es das Bildungssystem betrifft, die Schwierigkeiten von Unternehmen in der Corona-Krise, den schleppenden Start beim Impfprogramm, immer wird der Traum der Unabhängigkeit bemüht. Sei Schottland erst einmal autonom, so die Verheißung, werde alles gut.
Tatsächlich scheint der Großteil der Bevölkerung das zu glauben, obwohl etliche Probleme schon jetzt von der Regionalregierung gelöst werden könnten. Jüngsten Umfragen zufolge stehen derzeit bis zu 58 Prozent der Menschen im Norden hinter der Idee von Schottlands Eigenständigkeit. Als stärkster Treiber gilt der Brexit. Bei der Volksabstimmung 2016 votierte eine klare Mehrheit der Schotten gegen den Austritt Großbritanniens aus der EU. Sturgeon stieg mit ihrer pro-europäischen Haltung zur eigentlichen Opposition der konservativen Tories auf. Gerne stilisiert sie sich als Anti-Boris, insbesondere während der Pandemie kam ihr das zugute. So vermittelte die Erste Ministerin den Eindruck, Herrin der Lage zu sein.
Zum Erstaunen vieler Beobachter konnte sie auf geschickte Weise übertünchen, dass das Krisenmanagement im Ergebnis kaum besser ausfällt als in England. Das Virus wütet auch im Norden, die Region gehört, gemessen an der Einwohnerzahl, zu den meistbetroffenen der Welt. Doch während Johnson mit hochtrabenden Slogans, unrealistischen Versprechen und Kehrtwenden verwirrt, präsentiert sich Sturgeon kühl, sachlich, ernsthaft. Johnson ist, wenn man so will, ein Geschenk für die Unabhängigkeitsfans. Sturgeons politischer Stern leuchtet auch deshalb heller denn je. Gleichwohl spielt ihr der Brexit in die Hände. „Schottland kommt bald wieder, Europa“, prophezeite die Ministerpräsidentin zum Jahreswechsel.
Die Worte klangen wie Balsam für die geschundene Seele der EU-Freunde, auch wenn sich die Realität deutlich komplizierter darstellt. Würde Brüssel Schottland überhaupt aufnehmen wollen und damit die Büchse der Pandora öffnen für weitere separatistische Bewegungen in Europa? Die SNP pocht darauf, dass es sich bei einem Beitritt zur Staatengemeinschaft um keine Erweiterung handele. Vielmehr fordert sie im Grunde die EU-Mitgliedschaft zu denselben Bedingungen, wie sie Schottland als Teil des Königreichs in den vergangenen 40 Jahren genoss. Euro? Eher nein. Ausnahmeregelungen? Eher ja. Aber wie will Schottland als unabhängiges Land wirtschaftlich florieren? Konkrete Antworten auf die unzähligen Fragen bleiben die Abspaltungsgegner bislang schuldig.
Doch so offen, liberal und einwanderungsfreundlich sind die Schotten gar nicht. Viel zu oft vermischt sich dieses Bild leider mit Tartan-Patriotismus und Anglophobie. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nur wenig von den englischen Nationalisten. Wenn Sturgeon den Tories vorwirft, das Land mit dem EU-Austritt in die Katastrophe zu führen, darf die Frage erlaubt sein: Warum würde eine Abspaltung der Schotten vom Königreich weniger Schaden anrichten? Um ein Referendum abhalten zu können, müsste ohnehin Boris Johnson zustimmen. Er lehnt aber ab.
Im Mai wählen die Schotten ein neues Parlament. Sollte Sturgeons SNP einen Erdrutschsieg feiern, worauf alles hindeutet, dürfte es für Johnson schwer sein, bei seinem Nein zu bleiben. Gleichwohl besitzt er eine Mehrheit von 80 Sitzen im Unterhaus, er könnte den Streit aussitzen. Politisch wäre es für ihn Wahnsinn. Ein Auseinanderbrechen des Königreichs würde auch seine Karriere beenden. Man darf gespannt sein, welche tote Katze Johnson im Sommer auf den Tisch wirft.
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