
Geschafft. Sechs Monate lang hat Deutschland an der Spitze der Europäischen Union gestanden. Von einer „Corona-Präsidentschaft“ war zu Beginn die Rede. Am Ende kann sich die Bilanz sehen lassen: Der Deal mit Großbritannien steht. Der Haushaltsrahmen für die sieben Jahre bis 2027 ist unter Dach und Fach. Ein Aufbaufonds über 750 Milliarden Euro liegt zum Abruf bereit. Ein Mechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit wurde vereinbart. Die Widerstände aus Polen und Ungarn konnte man einfangen. Als erster Kontinent der Welt hat sich Europa ein Klimaschutz-Gesetz verpasst. Der Kampf gegen die Pandemie ist in allen 27 Mitgliedstaaten mit den Impfungen angelaufen.
Das Fazit überzeugt, auch wenn viele Wünsche offenblieben: Beim gemeinsamen Asylrecht ging es allerdings nicht voran. Das Flüchtlingslager Moria II ist genauso wenig human, wie das abgebrannte erste Lager. In einer idealen Welt hätte man mehr erreichen können – aber die EU ist nicht ideal. Das war sie nie, sie wird immer wieder umgebaut werden müssen und dabei an Tempo verlieren, weil Unterschiede und Differenzen zwischen Staaten zu dem Prozess der Einigung dazugehören.
Es wäre oberflächlich, das Erreichte der deutschen Ratspräsidentschaft zuzuschieben und für die Defizite andere verantwortlich zu machen. Richtig aber ist, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Stärke ausgespielt hat: ihren Pragmatismus. Der hat Kompromisse möglich gemacht, auch wenn man dafür in einigen Fällen bis zur Selbstverleugnung jenen populistischen Kräften zum Beispiel in Polen und Ungarn entgegenkommen musste, die man eigentlich in die demokratischen Schranken weisen will. Das neue Klimaschutzziel, die CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent zu senken, erscheint vielen Wissenschaftlern zu wenig.
Aber die deutsche Ratspräsidentschaft setzte auf das politisch gerade noch Mögliche und vertraute dabei auf eine wachsende Dynamik, die – erst einmal in Gang gekommen – auch mehr denkbar macht. Das kann man zaghaft nennen oder eben pragmatisch. In jedem Fall hat die Bundesregierung im Kreis der Mitgliedstaaten einen Beschluss erzielt, der eine ökologische Wende bewirken und dabei sozial abgefedert werden soll. Es stimmt: Bisher steht alles nur auf dem Papier. Aber das dürfte schon viel wert sein. Nicht zuletzt deshalb, weil so viel Bewegung mitten im Lockdown kaum für möglich gehalten wurde.
Am Ende dieses Jahres besteht vielleicht das größte Verdienst der Gemeinschaft darin, dass alle zusammengehalten haben. Drohende Worte wegen mangelnder Solidarität aus dem Süden sind verklungen. Eine Union, in der es keine Verlierer gibt, verkraftet das gut, wenn sich auch niemand als strahlender Gewinner präsentiert.
Kaum jemand hätte der EU zugetraut, am Ende dieses Jahres fast alle großen Baustellen abgeräumt zu haben. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wählte nach dem letzten EU-Gipfel des Jahres, als sie die Ergebnisse als „Meilenstein für Europa und unseren Planeten“ bezeichnete, große Worte. Etwas weniger Pathos hätte auch gereicht, um festzustellen, dass die Europäische Union im neuen Jahr an die Arbeit gehen kann.
Die EU muss ihr Verhältnis zu den USA unter dem Präsidenten Joe Biden erst finden. In den Beziehungen zu China blieb nicht nur das angestrebte Investitionsschutzabkommen liegen. Das Verhältnis zu Russland sollte dringend verbessert werden. Für diese offenen Fragen braucht Europa eine starke und verlässliche Stimme aus Deutschland. Deshalb sehen nicht wenige dem sich abzeichnenden Ende der Kanzlerschaft Merkels mit mulmigen Gefühlen entgegen.
Ihre Nüchternheit, die ebenso oft geschätzt wie kritisiert wurde, ließ sogar noch Raum für Flexibilität. Dass die Kanzlerin am Anfang der Krise zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron über ihren Schatten gesprungen ist und einen Aufbaufonds mit gemeinsamen Schulden initiiert hat, wurde ihr vor allem im Süden hoch angerechnet. Wer auch immer die Nachfolge antritt, muss hohe Erwartungen erfüllen können. Auch das hat diese deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020 gezeigt.
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