
Als Kinder und Jugendliche wurden sie missbraucht. Gefügig gemacht. Traumatisiert. Eines besseren Lebens beraubt. Als Erwachsene leiden sie unter den Erlebnissen von damals. Sie trauen sich nicht, mit Anderen zu sprechen. Die Ausbildung, der gute Beruf, eine Karriere: Für viele Betroffene von sexuellem Missbrauch sind das Fremdworte. Nicht erst im Alter leben sie von Hartz IV und Sozialleistungen, oft bekommen sie nur geringe Renten. Es ist völlig klar: Wer so etwas wie sexuellen Missbrauch erlebt hat, ist sein ganzes restliches Leben über stark geschädigt. Aber braucht er deswegen eine Entschädigung? Die erste, spontane, aber auch einzig legitime Antwort auf diese Frage kann nur lauten: ja. Wem sein Leben derart gründlich verpfuscht wurde, wie es bei vielen vom Missbrauch Betroffenen der Fall ist, der hat alles Recht der Welt, dafür Ersatz zu verlangen. Und zwar ohne jedes Wenn und Aber.
Einzig über die Begrifflichkeiten lässt sich streiten. Denn kann man so etwas überhaupt „entschädigen“? Wer soll das machen, wenn die Täter tot sind? Wie stark können Institutionen Verantwortung für die Taten Einzelner übernehmen? In der Debatte um den sexuellen Missbrauch in den Kirchen sind noch längst nicht alle diese Fragen geklärt. Das gilt für die Katholiken, bei denen eine Arbeitsgruppe aus Bischöfen und Missbrauchsbetroffenen im September Entschädigungssummen von bis zu 400.000 Euro aufrief. Das gilt für die Protestanten, die sich vor wenigen Tagen auf ihrer Synode in Dresden gegen pauschale Entschädigungszahlungen positionierten – und vor einer Debatte um die Beweisbarkeit von Sachverhalten warnten, die die Opfer nur erneut traumatisieren würde.
Doch um deutlich höhere Zahlungen an die Betroffenen werden beide großen Kirchen nicht herumkommen. Erlittenes Leid muss ausgeglichen werden, soweit das überhaupt möglich ist. Und in manchen Fällen wird man wohl tatsächlich von mehreren hunderttausend Euro sprechen müssen. So unermesslich groß sind die Schäden, die einzelnen Betroffenen zugefügt wurden. Möglich, dass man das künftig besser „Ausgleichszahlung“ statt „Entschädigung“ nennt. Daran, dass in großem Umfang Geld fließen muss, ändern die Begrifflichkeiten aber nicht sehr viel.
Freilich darf und sollte das nicht aus Mitteln der Kirchensteuer geschehen, wie es der katholische Bischof Stefan Ackermann kürzlich vorschlug. Denn das würde auch jene Gläubigen in Mitverantwortung nehmen, die von den Taten gar nichts wussten und erst Recht keinerlei Chance hatten, sie zu verhindern. Natürlich, beide großen Kirchen verstehen sich als Solidargemeinschaften. Aber Solidarität mit Missbrauchstätern und Vertuschern kann und darf es nicht geben. Sie müssen in erster Linie einmal selbst zur Verantwortung gezogen werden. Erst wenn ihr Vermögen einschließlich eventuell vorhandener Pensionsansprüche abgeschöpft ist, sollte die Institution Kirche einspringen müssen. Und auch dann ist in erster Linie an das vorhandene, in Rücklagen, Gebäuden und Grundstücken angesparte Vermögen zu denken. Der laufende Betrieb in den Gemeinden vor Ort jedenfalls darf nicht unter den Verbrechen an ganz anderer Stelle leiden.
Ohnehin wird es fast zehn Jahre nach dem Bekanntwerden der ersten Missbrauchsfälle 2010 am Berliner Canisius-Kolleg allmählich Zeit, den Blick zu weiten. Denn auch wenn die beiden großen Kirchen lange brauchten, bis sie mit der Aufarbeitung in Gang kamen: Sie sind am Thema dran, sowohl an der Aufarbeitung als auch an der Prävention.
Viele andere Institutionen und Verbände sind dagegen noch lange nicht so weit. Was passiert in Sachen sexueller Missbrauch beispielsweise in Sportvereinen? Was passiert in anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit? Wo sind die mit der katholischen MHG-Studie (ein interdisziplinäres Forschungsverbundprojekt zum sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch Priester, Diakone und Ordensangehörige) vergleichbaren Untersuchungen? Wo sind die Präventionsrichtlinien, wo die unabhängigen Ansprechstellen für potenzielle Opfer?
Die Situation in den Kirchen soll das nicht beschönigen. Sie sind weit davon entfernt, dass ihnen die Betroffenen – und nur diese haben das Recht dazu – bescheinigen, ein Ende der Aufarbeitung erreicht zu haben. Aber die Gesellschaft muss endlich auch an anderen Stellen genauer hinschauen. Denn ansonsten führt die anfangs durchaus berechtigte öffentliche Fokussierung auf die beiden großen Kirchen dazu, dass der sexuelle Missbrauch andernorts am Ende unentdeckt bleibt. Und einfach weitergeht.
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