
Neuerdings wird häufig über „die Verhältnismäßigkeit“ gestritten. Zuweilen entsteht der Eindruck, es handele sich um eine persönliche Einschätzung. Dabei ist der Begriff so schön sprechend: Verhältnismäßigkeit beschreibt das Maßnehmen, also die Vermessung des Verhältnisses von Zweck und Mittel. Gefühlte Temperaturen mögen inzwischen zu unserer Realität gehören, eine „gefühlte“ Verhältnismäßigkeit gibt es nicht.
Die Prüfung verläuft in drei Schritten. Dies sei am Beispiel der Kontaktdatenverarbeitung im Gastronomiebereich dargestellt. Telefondaten oder Mailadressen zu erfragen, ist ein geeignetes Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Dahingegen wäre es fehleranfällig, sich auf das Gedächtnis der Wirtin zu verlassen.
Als Nächstes müssen alle ebenso geeigneten Mittel betrachtet werden. Nur das Mildeste ist erforderlich. Auch mit Hilfe von Kameras, Gesichtserkennung und Lautsprechern könnten die potenziell Corona-Infizierten informiert werden, aber mit ungleich stärkeren Freiheitseingriffen. Eine offene Liste herumgehen zu lassen, würde Unberechtigten den Datenzugang ermöglichen. Dagegen ist die Verarbeitung der telefonischen oder digitalen Kontaktdaten das mildeste der geeigneten Mittel. Die Erhebung für einzelne Haushalte muss allerdings separat erfolgen. Und die Daten müssen gesichert, nach kurzer Zeit gelöscht und nur auf begründete Anfrage an das Gesundheitsamt herausgegeben werden.
Häufig wird zu früh über die Abwägung von Rechtspositionen diskutiert. Dabei müssten die Grundrechte der Wirtin gar nicht bemüht werden, wenn die Kontaktdatenverarbeitung schon deshalb rechtswidrig wäre, weil sie die Speicherung der Daten über bestellte Speisen zur Pflicht machte, die für die Pandemiebekämpfung wertlos sind. Auch wissen nicht alle Debattierenden, dass die Unverhältnismäßigkeit auf der dritten Stufe sehr hohe Hürden hat. Es muss sprichwörtlich mit Kanonen auf Spatzen gezielt werden. Selbst die Anwältin des Datenschutzgrundrechts muss zugeben, dass die in Bremen konkret angeordnete Verarbeitung der Kontaktdaten keine Kanone und der bezweckte Gesundheits- und Lebensschutz kein Spatz ist.
Allerdings ist ein solches Ergebnis immer nur eine Momentaufnahme. Sobald neue Erkenntnisse vorliegen, insbesondere zu verwendbaren Mitteln, müssen die drei Prüfungsschritte erneut durchlaufen werden. Nicht nur in virologischer Hinsicht befinden wir uns daher in der permanenten Vermessung der Pandemie.
Unsere Gastautorin ist promovierte Volljuristin und seit 2009 die bremische Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit.
job4u ist die regionale Plattform, wenn es um Lehren und Lernen geht. Neben dem WESER-KURIER, der Handelskammer und der Handwerkskammer Bremen machen sich hiesige Firmen für junge Leute stark.