
Der Streit über mögliche Fehler bei der Beschaffung des ersten in der EU zugelassenen Corona-Impfstoffs erfasst immer mehr Spitzenpolitiker. „Die EU hat meiner Meinung nach falsch eingekauft“, sagte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach der „Süddeutschen Zeitung“. Auch der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder warf der EU vor, die falschen Impfstoffe bestellt zu haben. Brüssel habe die Verhandlungen zudem durch unangebrachtes Feilschen zu lange hingestreckt, sagte er der „Bild“-Zeitung.
Die Erstbesteller erhalten nun mehr von dem begehrten Impfstoff des Mainzer Herstellers Biontech. Seit dem Wochenende steht auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mehr und mehr unter Druck: Er soll sich zu gutgläubig auf die zentralen Verhandlungen durch die EU verlassen, ohne sich genug in den Prozess eingebracht zu haben. Ebenfalls im Kreuzfeuer steht die Politikerin Stella Kyriakides aus Zypern, die als EU-Gesundheitskommissarin für die zentrale Beschaffung verantwortlich war. Sie verteidigte am Wochenende ihre Strategie: „Das Nadelöhr ist derzeit nicht die Zahl der Bestellungen, sondern der weltweite Engpass an Produktionskapazitäten.“ Ihr Team habe rechtzeitig mit Biontech verhandelt und sich dabei geschickt angestellt.
Die Kritik an der Verhandlungsstrategie der EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen hat sich verschärft, seit Biontech-Chef Uğur Şahin in einem Interview „Erstaunen“ über die Zurückhaltung der EU bei der Bestellung geäußert hat. Tatsächlich haben andere Länder beherzter zugegriffen. Die USA haben 1,8 Impfdosen pro Kopf der Bevölkerung beim Biontech-Partner Pfizer bestellt. Israel erhält knapp eine Dosis pro Kopf. Die EU hat 0,7 Dosen pro Kopf bestellt, Großbritannien mit 0,6 Dosen etwas weniger. Für vollen Impfschutz sind zwei Spritzen nötig.
An Söders Vorwurf der übertrieben Feilscherei und falschen Prioritätensetzung ist anscheinend etwas dran. Israel hat offenbar einen Preis von 62 Dollar pro Dosis akzeptiert, während die EU dem Vernehmen nach darauf bestanden hat, den Preis auf einen Betrag unter 15 Euro zu drücken. Die USA lagen mit einem Preis von 19,80 Dollar jedenfalls ein Stück darüber. Doch höhere Zahlungen helfen dem Unternehmen nicht nur, die Entwicklungskosten wieder hereinzuholen und die Risiken abzufedern. Ein großzügiges Angebot glättet naturgemäß auch die Verhandlungen. Israel und den USA stehen nun besonders viele Impfdosen zur Verfügung.
Die EU hat aber offenbar nicht nur kleinlich, sondern auch umständlich verhandelt und immer neue Termine und Besprechungen angesetzt, statt schnell zuzugreifen. Einen der ersten Verträge mit Biontech und Pfizer hat der Stadtstaat Singapur bereits Ende Juni nach kurzen Gesprächen abgeschlossen. Es folgte am 20. Juli Großbritannien. Zwei Tage später unterschrieben die USA ihren Vertrag. Der EU-Kommission gelang der Vertragsabschluss jedoch erst geschlagene viereinhalb Monate später im November. Und sie gab sich mit 300 Millionen Dosen zufrieden, während die USA gleich 600 Millionen bestellt haben.
Die Verträge garantieren die Lieferung von Impfdosen und schaffen damit einen gewissen Vorrang für die früheren Bestellungen. Die Existenz solcher Mechanismen stand von Anfang an fest; dennoch scheint die EU es nicht übertrieben eilig gehabt zu haben, die Vereinbarung früh abzuschließen. Doch die Kommission sah sich in dieser Phase jedoch auch der gegenteiligen Kritik ausgesetzt, sie verschwende in intransparenten Verhandlungen Steuergeld für überflüssige Impfdosen. Gerade die kleineren EU-Länder pochten auf günstige Lösungen. Die EU hat bisher Verträge über 1,5 Milliarden Immunisierungen für ihre 450 Millionen Einwohnern abgeschlossen und dabei alle wichtigen Anbieter berücksichtigt. Auf dem Papier ist das also bereits viel zu viel.
Im Sommer schien auch keiner damit zu rechnen, dass riesiger Streit um das erste verfügbare Produkt ausbrechen würde. Die Infektionszahlen waren monatelang so niedrig, dass führende Politiker einen zweiten Lockdown kategorisch ausgeschlossen haben. Der Virologe Christian Drosten von der Charité in Berlin nimmt die Verantwortlichen zum Teil in Schutz: „Das ist so eine komplexe Angelegenheit.“ Man habe zuerst nicht gewusst, welche Impfstoffe überhaupt funktionieren würden, sagte Drosten der „Berliner Morgenpost“. „Es ist jetzt praktisch unmöglich, das im Nachhinein zu bewerten.“ Drosten spricht sich nun dafür aus, schnell das vorbestellte Kontingent des britischen Herstellers Astrazeneca abzurufen. Der Impfstoff hat bisher jedoch noch keine Zulassung in der EU, obwohl das Produkt in Großbritannien bereits auf dem Markt ist. Es ist kostengünstiger und wird in großer Menge verfügbar sein. Es hat allerdings zwei Nachteile. Die Schutzwirkung liegt vermutlich ein wenig niedriger als bei Biontech. Außerdem hat dieser sogenannte Oxford-Impfstoff mehr Nebenwirkungen.
Insgesamt sieht es so aus, als könne Spahn sein Versprechen halten, bis Ende des Jahres allen impfwilligen Deutschen eine Immunisierung anzubieten. Nach und nach werden die 95 Millionen Dosen von Biontech eintreffen, dazu kommen Präparate von Astrazeneca, Moderna und Johnson & Johnson, die ebenfalls funktionieren und bereits vorbestellt sind. Der Moderna-Impfstoff wird voraussichtlich Mitte dieser Woche grünes Licht von den EU-Behörden erhalten. Von ihm sind 160 Millionen Dosen bestellt. Spahn verlangt in dieser erhitzten Situation bloß eine Tugend: Geduld.
Verlängerung wahrscheinlich
Wenige Tage vor neuen Bund-Länder-Gesprächen läuft alles auf eine Verlängerung des Lockdown in Deutschland hinaus. Offen ist allerdings, bis wann die Beschränkungen ausgeweitet werden – und was mit Schulen und Kitas passiert. Hier könnten die Länder nach den Gesprächen mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Dienstag unterschiedliche Linien fahren. Das deutet sich nach einer Schaltkonferenz der Staatskanzlei-Chefs vom Sonnabend an. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) forderte eine Lockdown-Verlängerung um weitere drei Wochen bis Ende Januar. „Vorschnelle Lockerungen würden uns wieder weit zurückwerfen“, sagte er der „Bild am Sonntag“. Erst Mitte Januar wisse man wirklich, wie sich Weihnachten und Silvester auf die Infektionszahlen ausgewirkt hätten.
Auch andere stark von Corona betroffene Bundesländer plädierten in der Telefonkonferenz für eine Verlängerung bis Monatsende, während weniger betroffene Länder einer neuen Entscheidung schon nach zwei Wochen zuneigten. Die Regierungschefs von Hamburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Rheinland-Pfalz, Peter Tschentscher (SPD), Stephan Weil (SPD), Reiner Haseloff (CDU), Bodo Ramelow (Linke) und Malu Dreyer (SPD), gehen ebenfalls davon aus, dass die strengen Regeln weiter gelten müssen. Sie nannten aber keine Zeitspanne.
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