
Der berühmte Tropfen, der das Fass im Nahen Osten vor zehn Jahren zum Überlaufen brachte, hat einen Namen: Mohamed Bouazizi. Durch seine Selbstverbrennung im Dezember 2010 hat der tunesische Gemüsehändler etwas in Bewegung gesetzt, das bis heute anhält. Manche nennen es den Arabischer Frühling, andere Arabellion. Wie auch immer, Bouazizi hat die Region verändert, wie sie sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr verändert hat. Schon vor ihm haben sich Menschen aus Verzweiflung über die despotischen Diktaturen in den Tod gestürzt, oft im Stillen, aber auch medienwirksam mit maximaler Aufmerksamkeit. Und trotzdem ist der Funken vorher nicht übergesprungen, ein Funke, der die Region in Brand setzte. Die Zeit war einfach noch nicht reif dafür.
Über Jahrzehnte wurde der Nahost-Konflikt von den arabischen Herrschern als Vorwand für die Verweigerung innenpolitischer Reformen missbraucht. Immer hieß es: Erst wenn wir eine Lösung für die besetzten Gebiete und die palästinensischen Flüchtlinge gefunden haben, ist der Zeitpunkt für eine Veränderung im Inneren gekommen.
Die Lösung aber ließ auf sich warten und die Reformen auch. Es entstand der Eindruck, dass gar keine Lösung gefunden werden sollte, damit eine Rechtfertigung für Repressionen bestehen blieb. Diese Einsicht verbreitete sich vor allem in den sozialen Medien. Plötzlich herrschten ein reger Austausch und eine intensive Vernetzung. Mohamed Bouazizi war überall präsent. Am 14. Januar 2011 verließ der tunesische Staatspräsident Zine el-Abidine Ben Ali nach 23 Regierungsjahren fluchtartig das Land. Nach ihm stürzten Hosni Mubarak in Ägypten, Muammar al-Gaddafi in Libyen und später Ali Abdullah Saleh im Jemen.
Doch die Tunesier sind die einzigen, die es bislang geschafft haben, ohne Blutvergießen Parlamente und Staatschefs auszutauschen, freie Wahlen zu organisieren. Alle anderen Länder ringsherum versanken entweder in Bürgerkriegen, wie Syrien, oder erhielten noch autokratischere Regime, wie Ägypten. „Wir haben eine schüchterne Demokratie“, umreißt der erste frei gewählte Interimspräsident Moncaf Marzouki (2011-2014) in einem Interview für „Al Jazeera“ die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre in seinem Land. „Aber wir haben eine Demokratie!“ Sicher habe es in den Jahren seit der Revolution acht Regierungswechsel gegeben. Von Stabilität sei man noch weit entfernt. Aber wenn man eine Revolution anstrenge, ginge das nicht so glatt. Als Erfolg nennt der Menschenrechtsaktivist Marzouki, dass es in seinem Land keine Folter mehr gäbe. „Das ist wirklich eine Erfolgsgeschichte in der arabischen Welt.“
Tunesien darf mit Fug und Recht das Wort Revolution benutzen, wenn es um die Umwälzungen der vergangenen zehn Jahre geht. Die anderen Länder nicht. Denn nirgends sonst ist tatsächlich ein Regimewechsel zustande gekommen. Die Tunesier streben nach den Werten, die in der westlichen Welt wichtig sind. Deshalb sollte das Land auch die volle Unterstützung erhalten. Bekommt es aber nicht. „Der Westen hat unseren Triumph nicht als Triumph der Demokratie gesehen“, sagt Marzouki bitter. Millionen Euro würden nach Ägypten zum Militärherrscher Abdel Fattah al-Sisi geschoben, in Tunesien käme im Verhältnis dazu kaum etwas an. Warum? Marzouki nennt die Einbindung der Islamisten in die Regierung als Grund für das nachlassende Interesse des Westens, vor allem Frankreichs. „Die Franzosen wollen nicht akzeptieren, dass Islamisten auch Demokraten sind.“
Doch in Tunesien steht viel auf dem Spiel, wenn die Unterstützung aus dem Westen nachlässt. Denn die Regime ringsherum tun alles, um Störfeuer zu legen. Allen voran Ägypten, aber auch die Golfstaaten. Ziel ist es, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu untergraben und sie nachhaltig zu schwächen. Wenn die wirtschaftliche Entwicklung nicht vorangeht und die Arbeitslosigkeit, vor allem unter jungen Leuten, weiterhin hoch bleibt, wird dies schnell der Fall sein. Doch jeder kann etwas dazu beitragen, dass das nicht geschieht – durch einen Urlaub in Tunesien, wenn es Corona wieder zulässt.
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