
Die Epoche Gorbatschow (1985 bis 1991) gehört für mich auch 30 Jahre danach zu den faszinierendsten Abschnitten meines Lebens. Als Deutscher aus der Bundesrepublik hatte ich das ungemeine Glück, in den Jahren der Perestrojka über lange Zeiten in Moskau zu leben und den Wandel der Welt, der mit Gorbatschows Namen verbunden ist, in der sowjetischen Metropole zu erleben. Eines Abends rief er mich in meiner kleinen Wohnung nahe der Metrostation „Aeroport“ an – so lernten wir uns persönlich kennen. In anderen Worten: Meine Erinnerungen sind nicht frei von persönlicher Sympathie und Hochachtung.
Als Historiker der Kulturen des intellektuellen Widerstands in Osteuropa und als Historiker des kulturellen Dissens in der UdSSR lernte ich 1986/1987 zu meiner totalen Überraschung, dass der Generalsekretär der KPdSU selbst als „general’nyj dissident“ (Generaldissident) auftrat, wie ihn damals viele meiner russischen Freunde nannten. Es war ein kaum vorstellbarer – und befreiender Schock. Über viele Jahre hatte ich der Sowjetunion eine galoppierende Lernunfähigkeit bescheinigt. Nun musste ich feststellen, dass der erste Mann dieses Systems einen geschichtlichen Wandel einleitete und die Welt zwang, von Grund auf neu zu lernen.
Gorbatschow gewährte oder ermöglichte in schnellen Schritten das freie Wort und die Kritik an dem System, das er selbst repräsentierte. Bei nomineller Fortdauer der Diktatur einer Partei verstand er sich selbst als ein „Revolutionär“ großen Stils. Sein Kalkül war, die erstarrten Machtstrukturen aufzubrechen und soziale Fantasie in sie hereinzuholen. Seine Vision, die Kritik aus der Gesellschaft in einen Motor zum Herrschaftswandel umzusetzen. Es war ein genialer Gedanke. Doch schlug er letztlich fehl. Die neuen Öffentlichkeiten suchten ihre eigenen, nicht mehr von oben steuerbaren Wege.
Für mich wurde Moskau 1988 und 1989 zu einem großen Laboratorium der Geschichte. Gorbatschow rang mit einer atemberaubenden Energie um die Neukonstruktion der Politikstrukturen, so mit der Machtverlagerung von Partei- auf Staatsämter. Doch eröffnete sich ein Dilemma: Während er die neuen Öffentlichkeiten nicht (mehr) für sich gewinnen konnte, verlor er mehr und mehr den Rückhalt in den Parteiapparaten. Aus dem Initiator des Wandels wurde ein Mittler zwischen den auseinander driftenden Welten in der zerbrechenden UdSSR.
So klug es von dem Generalsekretär war, die widerspenstigen Apparate so weit als möglich einzubinden, so deutlich wuchs die Gefahr, eben dadurch an Handlungsfähigkeit zu verlieren. Seine größte Schwäche aber war, dass er die Sprengkraft und die historische Dimension der nationalen Frage – insbesondere im Blick auf die baltischen Völker – nicht verstand. Als sich schließlich von 1990 an Russland unter der Führung von Boris Jelzin gegen die Union wandte, drohte die einstige Sowjetmacht zum Phantom zu werden. Ende 1991 kam ihr Ende.
Nein, es ist ein historischer Irrtum zu meinen, Gorbatschow hätte die Sowjetunion zerstört. Im Gegenteil: Er versuchte, sie mit all seiner Kraft, seinen Reformen und Ideen zu retten. Die Reformen aber waren an sein Freiheitsversprechen und seinen Gewaltverzicht gebunden. Offensichtlich fehlten dem alten System die inneren Reserven für seine Erneuerung. Der wirtschaftliche Niedergang sprach für sich. Vielfältige Rettungsprogramme scheiterten in den Apparaten.
Untrennbar mit dem Umbau des eigenen Landes verbunden war der Umbau der internationalen Politik. Gorbatschow revolutionierte sie im Namen des Friedens. Er beendete den sowjetischen Krieg in Afghanistan und eröffnete eine Epoche globaler Abrüstung. Wie kaum ein Staatsmann vor oder nach ihm prangerte er die Rüstungsspirale zwischen Ost und West an, um sie mit einer Fülle konkreter Abkommen in eine Abrüstungsspirale umzukehren. Dank Gorbatschow gewann die Weltpolitik neue Konturen. Zu Recht erhielt er 1990 den Friedensnobelpreis.
Gleichzeitig löste sich die sowjetische Herrschaft über das östliche Europa auf. Die Systemwechsel vollzogen sich in Form von Verhandlungen, Diktaturen dankten (mit Ausnahme Ceausescus in Rumänien) einfach ab, Revolutionen gewannen ein friedliches Gesicht. In Berlin fiel über Nacht die Mauer. Und Gorbatschow als Oberbefehlshaber der einstigen Hegemonialmacht, die noch immer über alle Waffen verfügte, willigte ein.
Es war eine fantastische Erfahrung, die meine Generation im Jahr 1989 erlebte. Der sowjetische und der amerikanische Präsident erklärten in Malta den Kalten Krieg für beendet. Ein Jahr später wurden in der Charta von Paris die Grundsätze formuliert, auf denen das gemeinsame europäische Haus aufbauen sollte. Gorbatschow war sein Architekt.
In der Tat: Michail Gorbatschow hat Geschichte geschrieben. Aus dem innersten Kern des sowjetischen Einparteienstaates heraus hat er versucht, das System grundlegend oder, wie er selbst sagte, auf revolutionäre Weise zu reformieren. In seinem Sinne ist ihm dies nicht gelungen. Doch hat er Freiheiten eröffnet, die seinem eigenen Land Wahlmöglichkeiten eröffneten, die schon nicht mehr von ihm oder einer Partei abhingen. Und er hat die Selbstbefreiung der Völker des östlichen Europas akzeptiert.
Die politische Geografie des Kontinents gestaltete sich von Grund auf neu. So hat Michail Gorbatschow sehr viel bewegt. Doch hat er auch dort, wo die Geschichte über ihn hinwegging, nicht versucht, sich ihr mit Gewalt entgegenzustellen. In meinem ersten Gespräch mit ihm fragte ich ihn, worin er seine historische Leistung sehe. Er überlegte einen Augenblick, hob dann beide Hände und meinte: „An ihnen ist kein Blut.“
Wolfgang Eichwede (78)
ist Gründer der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen und war bis 2008 Leiter des Instituts. Der Historiker hatte 1997 – gemeinsam mit Bürgermeister Henning Scherf – Michail Gorbatschow nach Bremen eingeladen und ist dem früheren Präsidenten der Sowjetunion eng verbunden. So war Eichwede zum 80. Geburtstag Gorbatschows nach Moskau eingeladen.
job4u ist die regionale Plattform, wenn es um Lehren und Lernen geht. Neben dem WESER-KURIER, der Handelskammer und der Handwerkskammer Bremen machen sich hiesige Firmen für junge Leute stark.
Es sei ergänzend auf die "Radwege" in Oberneuland verwiesen.
Insbesondere die Leher Heerstr. zwischen Uppe ...