
Großbritannien wirkt wie aus den Fugen geraten. Ein Schlag nach dem anderen trifft das Land, ob in Form von Terrorangriffen, politischen Erdbeben oder nun als verheerender Großbrand. Dabei bleibt kaum die nötige Zeit zur Trauer, Aufarbeitung oder wenigstens für einen Moment des Innehaltens. An diesem Montag beginnen die Brexit-Verhandlungen, die von historischem Ausmaß für die Zukunft des Königreichs sind.
Nur wirklich vorbereitet scheint London nicht zu sein – zu viel Zeit wurde mit Säbelrasseln und einem Wahlkampf verschwendet, den bis auf Premierministerin Theresa May keiner wollte. Selbst kurz vor den Gesprächen blieb Downing Street der Bevölkerung einen konkreten Plan schuldig. Die Regierungschefin folgt vielmehr ihrer Linie, laut der sie so wenig wie möglich öffentlich preisgibt. Wohin aber geht die Reise?
Die Briten haben der Vision von May bei der Neuwahl, die sie selbst zur Brexit-Abstimmung erklärt hat, eine klare Absage erteilt. Auf Druck der Anti-EU-Hardliner in der eigenen Partei strebte sie einen klaren Bruch mit Brüssel an, ohne in den vergangenen Monaten jene Wähler zu berücksichtigen, die entweder keinen Brexit wünschen oder es als wirtschaftlichen Selbstmord betrachten, den gemeinsamen Binnenmarkt sowie die Zollunion zu verlassen.
Theresa May agiert wie eine Marionette ihrer Partei
Statt einen Blankoscheck für ihren harten Kurs zu bekommen, wurde sie nun für ihr Vorgehen abgestraft. Noch scheint sie diese Tatsache zu ignorieren, aber wie lange geht das gut? Die Konservativen haben ihre absolute Mehrheit verloren, und die geschwächte Premierministerin agiert mittlerweile wie eine Marionette ihrer Partei. Von der „starken und stabilen Führung“, mit der sie während des Wahlkampfs warb, ist nichts mehr übrig. Ihre Zustimmungswerte sinken täglich, denn auch während der Terroranschläge und selbst nach der Brandkatastrophe machte sie keine gute Figur.
Hinzukommt, dass im politischen Betrieb völliges Chaos herrscht. Ein Abkommen mit der nordirischen DUP steht noch immer aus, von der sich May in einer Minderheitsregierung dulden lassen will. Selbst konservative Schwergewichte wie der Ex-Premier John Major haben vor einer Zusammenarbeit mit der erzkonservativen Regionalpartei gewarnt, die den fragilen Frieden in Nordirland gefährden könnte. Doch May steht unter Druck, weshalb sie in einem gewagten Schritt einen Termin für die Queen’s Speech angesetzt hat, ohne dass ein Deal mit der DUP geschlossen ist: Am Mittwoch schon soll Königin Elizabeth II. das Programm der Tories vortragen.
Bei pro-europäischen Kräften dürfte trotz des politischen Durcheinanders Hoffnung aufkeimen. Die Tage, in denen die Brexit-Anhänger die Diskussion beherrschten und die Scheidung von Brüssel euphorisch als einfache Übung verharmlosten, sind offenbar gezählt. Es gefährdete von Anfang an den Erfolg der Verhandlungen, dass sie Kritiker eines harten Brexit verhöhnt, Experten nicht mehr angehört haben.
Vielleicht wird der EU-Ausstieg tatsächlich weniger schlimm als befürchtet für die Wirtschaft und Großbritanniens Stellung in der Welt. Aber diese Chance besteht nur dann, wenn die Entscheidungsträger mit Vernunft und Realismus statt mit leeren Slogans und ohne den Rückhalt aus der Bevölkerung und des Parlaments nach Brüssel reisen.
Gehöriger Einfluss aus Schottland
Verflechtungen aus 40 Jahren aufzulösen, ist eine beispiellose Mammutaufgabe und gleicht eben nicht der Kündigung der Sportklub-Mitgliedschaft. Jetzt schlägt die Stunde der moderaten Kräfte im Parlament, die ab Montag unaufhörlich Erklärungen, Transparenz und ein Mitspracherecht fordern werden.
Schatzkanzler Philip Hammond beispielsweise hat sich gegen Mays Kurs gestellt und tritt für einen Verbleib in der Zollunion ein. Als Priorität bei den Gesprächen sieht er die Sicherung von Arbeitsplätzen und Wirtschaftswachstum. Und er hat etliche Parlamentarier hinter sich, die nun endlich ihre Stimme erheben.
Auch die zwölf Abgeordneten aus Schottland, die May rechnerisch die Macht sicherten, dürften gehörigen Einfluss ausüben. Sie plädieren für einen weichen Brexit – genauso wie die DUP, die zwar den EU-Ausstieg befürwortet, aber eine feste EU-Außengrenze zur Republik Irland unbedingt verhindern will.
May wird auf diese Kräfte hören müssen, selbst wenn ihr die Europaskeptiker weiterhin auf den Füßen stehen. Sie ist in einer Position, die schwächer kaum sein könnte – sowohl innenpolitisch als auch in Brüssel.
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