
Heinz Rothgang: Ein zentrales Ergebnis ist, dass wir erheblich mehr Pflegekräfte in den Altenpflegeeinrichtungen brauchen. Soweit ist das auch erwartbar gewesen. Allerdings brauchen wir vor allem mehr Assistenzkräfte und nur in sehr geringem Umfang mehr Fachkräfte.
Was heißt das konkret in Zahlen?Insgesamt wird im Bundesschnitt über alle Qualifikationsstufen hinweg ein gutes Drittel mehr Pflegekräfte als bisher benötigt. Wenn man das aufgliedert, zeigt sich, dass bei den Fachkräften im Bundesschnitt nur ein sehr geringer Mehrbedarf von rund dreieinhalb Prozent besteht. Bei den Assistenzkräften kommen wir dagegen auf einen rechnerischen Mehrbedarf von 69 Prozent. Das bedeutet eine enorme Verschiebung im Qualifikationsmix, deren schrittweise Umsetzung zu erheblichen Organisationsreformen in Einrichtungen führen wird.
Wie viele zusätzliche Pflegekräfte werden demnach künftig in den Einrichtungen benötigt?Wenn die Zahl der Pflegekräfte um gut ein Drittel, also 36 Prozent nach unserer Bemessung, erhöht werden muss, sind das über 100.000 zusätzliche Pflegekräfte – von jetzt 320.000 auf etwa 440.000. Diese zusätzlichen Pflegekräfte können aber nicht von heute auf morgen eingestellt werden. Das System, das wir vorschlagen, sieht eine stufenweise Einführung in den kommenden Jahren vor.
Sie waren bundesweit in mehr als 60 Pflegeeinrichtungen, haben die Daten von 1380 Bewohnern erfasst und jede praktische Pflegehandlung – insgesamt etwa 144 000 sogenannte Interventionen – dokumentiert. Sie haben den Ist-Zustand der Pflegetätigkeiten gemessen und ihn bewertet. Welches Bild hat sich gezeigt?Die Pflegekräfte in den Heimen machen das, was gerade anliegt – und zwar die Fachkräfte genauso wie die Assistenzkräfte. Jede und jeder macht wirklich alles. Damit erledigen die Fachkräfte viele Dinge, für die ihre Qualifikation nicht notwendig ist. Wenn man das geschickter organisiert – kompetenzorientierte Pflege ist das Stichwort –, würden die Fachkräfte nur jene Aufgaben übernehmen, für die ihre Qualifikation erforderlich ist, und andere Dinge abgeben. Dadurch haben sie mehr Zeit. Mehr Personal bei den Assistenzkräften entlastet so auch die Fachkräfte.
In Ihrem Verfahren zur Personalbemessung gibt es auch keine feste und pauschale Personalquote mehr. Warum nicht?Wir ersetzen eine einheitliche Personalbemessung auf Länderebene durch eine Personalbemessung auf Heimebene. Das heißt: Die Anzahl der Pflegekräfte und der Qualifikationsmix sind abhängig vom Pflegegradmix in einer Einrichtung. Bei der Entwicklung des Instruments haben wir gemessen, welchen Bedarf ein Pflegebedürftiger mit Pflegegrad 1, 2, 3, 4 oder 5 hat. Gibt es viele Bewohner mit niedrigem Pflegegrad, führt das zu einem geringen Fachkräfteanteil. Und umgekehrt: Höhere Pflegegrade in der Bewohnerschaft führen zu einem höheren Fachkraftanteil. Wir haben uns an den Bedürfnissen der Bewohner orientiert – und nicht mehr an einer starren Quote, die auf die Besonderheiten der Einrichtung keine Rücksicht nimmt. Das gilt für die Fachkraftquote und die grundsätzliche Personalstärke in einer Einrichtung.
Die Pflege ist geprägt vom Personalmangel, am Personal hängt aber Ihr System. Ist das nicht der Haken?Deshalb schlagen wir vor, das Verfahren stufenweise einzuführen. Im ersten Schritt sollte man mit einer sogenannten „Wer-kann-der-kann-Regelung“ starten. Einrichtungen, die das können, dürfen beispielsweise mehr Assistenzkräfte einstellen, und diese werden dann auch refinanziert. Es gibt aber noch keine Verpflichtung, dass alle Heime das System sofort umsetzen. Das Ziel ist, Zeit zu gewinnen, gleichzeitig aber auch möglichst schnell zu starten.
Bleibt trotzdem die Frage: Woher sollen die Pflegekräfte kommen?Wir müssen die Ausbildungskapazitäten noch viel stärker aufstocken, das ist dringend notwendig. Die Konzertierte Aktion Pflege der Bundesregierung, das Pflegeberufegesetz und andere Maßnahmen haben sich bislang vor allem auf die Fachkräfte konzentriert; das ist natürlich nicht falsch, weil wir allein aus demografischen Gründen in diesem Bereich einen großen Bedarf haben. Wir müssen aber zusätzlich Anstrengungen unternehmen, um etwas Ähnliches für Assistenzkräfte aufzulegen. Der Vorteil: Da auch die qualifizierten Assistenzkräfte nur eine ein- bis zweijährige Ausbildung durchlaufen, ist dieses Personal relativ schnell auf dem Arbeitsmarkt. Da müssen wir jetzt ran.
Zu attraktiven Arbeitsbedingungen gehören mehr Stellen, weniger Druck, planbare Arbeitszeiten – aber vor allem auch die Bezahlung. Die Mindestlöhne in der Altenpflege sollen steigen: für Pflegehilfskräfte bis zum 1. April 2022 auf 12,55 Euro, und erstmals soll es ab 1. April 2021 einen Mindestlohn für Pflegefachkräfte von 15 Euro geben. Hilft das?Das hilft, reicht aber nicht aus. Wir brauchen auch Tariflöhne, die deutlich höher liegen. Und: Zwischen der Pflege im Krankenhaus und der Altenpflege gibt es ein erhebliches Lohngefälle, noch immer werden in der Altenpflege 500 bis 600 Euro weniger gezahlt. Wohlgemerkt bei gleicher Qualifikation der Pflegekräfte. Seit diesem Jahr gibt es die generalistische Pflegeausbildung. Diese Pflegekräfte können sich danach aussuchen, wohin sie gehen. Wie fällt wohl die Entscheidung größtenteils aus, wenn es dieses Lohngefälle gibt? Die Unterschiede müssen ausgeglichen werden, sonst hat die Altenpflege schlechte Karten.
Das alles kostet Geld. Der monatliche Eigenanteil für die Heimbetreuung steigt seit Jahren, aktuell liegt er allein für die Pflege im bundesweiten Schnitt bei 731 Euro im Monat. Mit den Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen liegt er bei knapp 2000 Euro im Monat. Wie kann verhindert werden, dass die Qualitätsverbesserungen voll an die Pflegebedürftigen weitergegeben werden?Wir brauchen zunächst einen Stopp des Anstiegs der Eigenanteile. Im Moment ist es so, dass die Pflegeversicherung eine gedeckelte Sockelleistung finanziert, alles darüber hinaus zahlen die Pflegeheimbewohner selbst. Wenn jetzt Verbesserungen kommen – höhere Entgelte, mehr Personal, Qualitätssteigerungen –, zahlen das zu hundert Prozent die Pflegebedürftigen in den Einrichtungen. Sie zahlen die Spitze. Mein Vorschlag ist ein Sockel-Spitze-Tausch, der das umkehren soll: Der Eigenanteil wird dabei als Sockel festgelegt. Die Pflegebedürftigen wissen dann, was die Pflege im Heim höchstens kosten kann, und können vorsorgen. Wenn es jetzt Qualitätsverbesserungen gibt, zahlt das die Pflegeversicherung, also 50 Millionen Beitragszahler anstatt der 800.000 Pflegeheimbewohner.
Das würde höhere Beiträge zur Pflegeversicherung bedeuten?Wenn keine weiteren Maßnahmen ergriffen werden: ja. Will man das verhindern, ist man beim Thema Steuerfinanzierung oder bei der Einbeziehung der Privatversicherten in die gesetzliche Pflegeversicherung. Das ist längst überfällig, weil diese Zweiteilung des Systems eine der größten Ungerechtigkeiten des Systems ist. Eines ist auf jeden Fall klar: Wenn man eine Personalbemessung umsetzen will, wird es teurer – und das geht nicht, ohne dass der Eigenanteil begrenzt wird.
Der Auftrag der Vertragsparteien der Pflege-Selbstverwaltung war es, ein Instrument zur Personalbemessung bis Ende Juni 2020 zu entwickeln. Wie zuversichtlich sind Sie, dass Ihr Instrument nun auch umgesetzt wird?Ich gehe davon aus, dass es mit Modifikationen umgesetzt wird. Die Ergebnisse liegen auf dem Tisch. Nach Fristablauf muss die Selbstverwaltung einen Vorschlag, basierend auf unserer Studie, vorlegen. Nach meiner Einschätzung werden das Bundesgesundheitsministerium und die Selbstverwaltung ab Juli mit der Einführung beginnen. Die Zeit drängt sehr, der Pflegenotstand ist mit Händen zu greifen. Wir haben offene Stellen, Kapazitäten werden stillgelegt, Einrichtungen haben Wartelisten, ambulante Pflegedienste sind voll ausgelastet. Wir kommen da nur raus mit einem Befreiungsschlag, indem wir deutlich machen, dass der Beruf eine Perspektive hat – vor allem auch durch verbesserte Arbeitsbedingungen. Das ist ganz zentral.
Das Gespräch führte Sabine Doll.Heinz Rothgang (57)
ist Professor für Gesundheitsökonomie und Leiter der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik (Socium) der Universität Bremen.
Instrument zur Personalbemessung
Die Projektgruppe um den Bremer Gesundheitswissenschaftler Heinz Rothgang hatte 2017 in einer europaweiten Ausschreibung den Zuschlag bekommen, ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur einheitlichen Bemessung des Personals in Pflegeeinrichtungen bis Ende Juni 2020 zu entwickeln und zu erproben. Dieser Auftrag an die Selbstverwaltung der Pflege ist im zweiten Pflegestärkungsgesetz formuliert.
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