
Der Betrunkene, der in jener milden und trockenen Novembernacht um kurz vor Mitternacht in eine kleine Kellerbar in Kreuzberg namens Arcanoa wankte, lallte laut: „Ick jlob, ick werd bekloppt, wa. Der janze Mehringdamm is voller Trabbis.” Niemand nahm zunächst Notiz von dem Mann und seiner wirren Botschaft, bis das Hupkonzert draußen auf der Straße die brüllend laute Musik aus den Lautsprechern übertönte. Dieter, Petra, Sabine, Nanette, Gerd, Frank und ich, sieben Studenten von der Freien Universität Berlin, diskutierten beim Bier nicht über Gott, aber über die Welt, als ein paar Hundert Meter entfernt von uns plötzlich die Berliner Mauer fiel.
Alle hatten wenige Stunden zuvor jene legendäre Pressekonferenz von Günter Schabowski gesehen, auf der er auf Nachfrage der Journalisten über die Regelungen des neuen Reisegesetzes informierte. Im Originalton. Das Fernsehen der DDR, das zuvor mit Agitprop-Sendungen wie „Der schwarze Kanal“ von und mit Karl Eduard von Schnitzler auf uns eher unfreiwillig komisch wirkte, sahen wir in diesen Novembertagen des Jahres 1989 in Berlin sogar freiwillig. In voller Länge wurden wichtige Ereignisse wie zum Beispiel die große Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz dokumentiert. So auch die Fragestunde der Journalisten zur Sitzung des Zentralkomitees der SED, die unfreiwillig den Fall der Mauer einläutete.
Die Novembertage des Jahres 1989 waren geprägt von der Hoffnung auf Demokratie und Freiheit für die Menschen, die nur wenige Meter von uns entfernt wohnten, uns in Wirklichkeit aber viel weiter entfernt waren als der amerikanische Austauschstudent aus Knoxville/Tennessee, der damals in unserer Wohngemeinschaft lebte. Jetzt, so unsere Einschätzung beim Bier, dürfte es nur noch ein paar Tage dauern, bis die DDR-Bürger endlich reisen können. Wir diskutierten darüber, wie viele wohl die Gelegenheit nutzen würden, um der DDR für immer den Rücken zu kehren. Wir waren uns sicher, dass viele zurückkehren würden, wenn sie begriffen hätten, dass man Autos, Videorekorder und Jeans nicht nur kaufen kann, sondern auch mit harter Westmark bezahlen muss.
Aus jahrelanger Pendel-Erfahrung auf den Transitautobahnen zwischen West-Deutschland und West-Berlin waren wir sicher, dass die Erteilung der entsprechenden Visa mit Sicherheit einige Zeit, Anträge und Stempel im Reisepass in Anspruch nehmen würde. Und natürlich Schlange stehen. Das war im Osten immer so. Dass der Druck im Kessel Graues DDR so hoch geworden war, ahnte an diesem Abend niemand. Bis wir das Hupkonzert oben auf der Straße wahrnahmen und uns eine Qualmwolke aus Zweitakter-Abgasen empfing. Dann hatten auch wir im Keller begriffen, dass die Menschen ihr Recht in die Hand genommen und vollendete Tatsachen geschaffen hatten. Ganz ohne Reisepass, Visum, Stempel und Schlange stehen. Einfach so.
Wir machten uns sofort auf zum nächsten Grenzübergang an der Prinzenstraße in Kreuzberg. Während uns lauter feiernde Menschen entgegenkamen, überquerten wir die Grenze in entgegengesetzter Richtung. „Mal gucken, wer noch drüben ist”, grinste Gerd, und über die Heinrich-Heine-Straße und Brückenstraße spazierten wir ungehindert und ohne Zwangsumtausch zum Alexanderplatz. Nicht eine Woche zuvor hatte sich dort eine halbe Million Menschen versammelt, um gegen den SED-Staat zu demonstrieren. Jetzt war der Platz wie ausgestorben. Noch nicht mal unter der riesigen Weltzeituhr trafen sich Menschen.
Wir marschierten über die damals schon prächtig hergerichtete Meile „Unter den Linden“ vorbei Richtung Brandenburger Tor. Hier hatte ich ein paar Wochen zuvor noch die Leistungsschau „40 Jahre DDR” gesehen, deren Höhepunkt der ausgestellte Kosmonautenanzug von Sigmund Jähn war. Die Ausstellung sollte Weltniveau demonstrieren, stellte aber für uns nur die unerträgliche Langeweile des Arbeiter- und Bauernstaats unter Beweis.„Wer den 40. Geburtstag so pompös feiert, wird seinen 50. nicht mehr erleben”, unkte damals unser Publizistik-Professor Axel Zerdick. Gemünzt war das allerdings weniger auf die DDR als auf ihre fahlgrauen Repräsentanten Erich Honecker, Willi Stoph, Erich Mielke und Günter Mittag.
Von den vielen Bildern und Begegnungen der Nacht bleibt mir eines besonders in Erinnerung: Das waren die ratlosen Volkspolizisten, die sich am Brandenburger Tor herumdrückten und fassungslos auf die tanzenden Menschen auf der Mauer starrten. Es war wie eine Rückansicht der Zeitgeschichte. Leider hatte damals niemand zufällig einen Fotoapparat in der Tasche. Digitalkameras und Handys gab es noch nicht. Über den Grenzübergang an der Invalidenstraße kehrten wir schnell wieder zurück nach West-Berlin und gingen Richtung Reichstag und Brandenburger Tor, wo sich am Pariser Platz Tausende Menschen versammelt hatten. Es war, als ob niemand an Schlaf gedacht hätte.
In jener Nacht vom Donnerstag, 9. November 1989, auf Freitag, 10. November 1989, gab es noch keine Ossis und keine Wessis, keine Motzkis, nur Vor-Freude-Trunkene, nicht ein Volk, nur das Volk. In dieser Nacht herrschte Freude, ehrliche Freude darüber, dass die Menschen ungehindert von Mauer, Stacheldraht und Stasi von Ost nach West und wieder zurück gehen konnten. Die Nacht vom 9. November gehörte nicht den Politikern. Sie gehört den Menschen in Ost-Berlin. Wir Wessis waren dabei nur staunende Statisten.
Markus Peters
ist Desk-Chef des
WESER-KURIER und studierte von 1988 bis 1992 an der Freien Universität Berlin. Dort erlebte er den Untergang der DDR hautnah mit.
job4u ist die regionale Plattform, wenn es um Lehren und Lernen geht. Neben dem WESER-KURIER, der Handelskammer und der Handwerkskammer Bremen machen sich hiesige Firmen für junge Leute stark.
Die bisher angefallenen Kosten sollte der Verursacher dieser "Panne", wenn es denn ...