
Eigentlich sollte der Begriff Debattenkultur selbsterklärend sein. In dem Wort steckt alles drin: Eine lebhafte Diskussion eben, die ein Thema von allen Seiten beleuchtet. Argumente werden ausgetauscht, es kann hitzig zugehen, erregte Gemüter, ein ständiges Für-und-Wider. So viel zur Theorie. In der Praxis sieht das im digitalen Zeitalter anders aus. Auf Internetplattformen wird gepöbelt und gedroht. Doch auch in Talkshows und bei Podiumsdiskussionen geht es um Polemik, sind die Fragen reißerisch. Anstatt komplexe gesellschaftliche Themen abzubilden, werden Debatten vereinfacht. So ebnen sie Hass und Hetze den Weg. Eine Bankrotterklärung für die Debattenkultur im deutschen Fernsehen.
Wer sich vor allem im Abendprogramm der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender umschaut, stößt auf bedenkliche Fragestellungen: Frank Plasberg wollte bei „Hart aber fair“ über Flüchtlingskriminalität sprechen, Sandra Maischberger wollte mit ihren Gästen die Frage „Sind wir zu tolerant gegenüber dem Islam?“ beantworten. Zwei Themen, die sicherlich ihre Berechtigung haben. Allerdings sind sie in den meisten Talkshows in den vergangenen Jahren ad absurdum geführt worden. Die Fragen wurden zwar extremer und tendenziöser, aber brachten wenig neue Erkenntnisse. Knapp 100 Mal ging es bei den verschiedenen Talkshows von ARD und ZDF um Flüchtlinge und den Islam.
Diskussionen über Pflege oder Digitalisierung waren rar. Das hat den Diskurs verzerrt und den Hass genährt. Sicher, Polit-Talks müssen sich im Internetzeitalter gegen die virtuelle Übermacht der Diskussionsplattformen wehren. Von Beschimpfungen über üble Behauptungen bis hin zu Morddrohungen findet sich alles in den meisten sozialen Netzwerken wieder. Einzelfälle werden als Massenphänomen aufgeblasen, Massenphänomene wiederum verharmlost. Je kürzer die Parolen, desto eher lassen sie sich auf einem Online-Portal teilen. Das nehmen Talkformate inzwischen zum Vorbild. Die Aufmerksamkeit der Konsumenten? Kurz. Der Einstieg in komplexe Sachverhalte? Zu kompliziert. Aber Wut und Hass potenzieren sich in so einem gesellschaftlichen Umfeld unweigerlich, egal, aus welchem politischen Lager sie kommen.
Kritik von Internetnutzern, dass „Hart aber fair“ mit seiner Themensetzung „Framing“, also die In-Beziehung-Setzung von Worten und Begriffen wie Kriminalität und Flüchtlinge betreibe, prallte an den Verantwortlichen ab: „Wir versuchen das, was Menschen beschäftigt, so darzustellen, wie es ist.“ Anstatt den Entstehungsprozess des Themas transparent zu zeigen, versteckten sich die Macher der Sendung hinter dem öffentlichen Interesse. Dass sie mit ihren einschlägigen Fragestellungen dieses Interesse formen, ignorieren sie. Eine Kapitulation, die zeigt, dass diese Sendungen ausgedient haben. Dafür ist auch der Umgang der Talkshow-Gastgeber mit der Causa Gauland beispielhaft.
Der AfD-Politiker ist wegen seiner „Vogelschiss“-Äußerung aus fast jedem gängigen TV-Format von der Gästeliste gestrichen worden. Dabei wäre genau das Gegenteil die richtige Reaktion gewesen: Wer den mörderischsten Krieg der Moderne und den systematischen und industriellen Massenmord an mehreren Millionen Unschuldigen als Vogelschiss relativiert, muss Rede und Antwort stehen. Gauland schuldet es den Bürgern, schon weil er als Bundestagsabgeordneter einen Rechtsstaat vertritt, dessen Werte auch auf der Auseinandersetzung mit seiner dunklen Vergangenheit basieren. Wer ihm keine Fragen stellt, drückt sich vor der Verantwortung.
Der Ausschluss aus der Debatte ist genau die Opferrolle, die sich Populisten aller politischen Orientierungen wünschen. Sie aus Diskussionen zu verbannen und ihnen damit die Möglichkeit zu geben, einen Paralleldiskurs fernab der gesellschaftlichen Mitte zu führen, ist fahrlässig. Es gibt Populisten Zündstoff, mit noch mehr Hass gegen die Medien, die Politik und die gesellschaftliche Mitte zu schießen.
Der Deutsche Kulturrat forderte ARD und ZDF auf, ihre Talkshows zu überarbeiten und ein Jahr lang keine mehr zu senden. Das ist idealistisch, könnte die Debattenkultur aber tatsächlich retten. Streit und Austausch sind ein Merkmal einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Debatten sollen Perspektiven öffnen und nicht beschneiden oder einschränken. Zwischen Angst abbilden und Angst schüren liegt ein Unterschied. Debatten über Integration, über Konflikte, über unterschiedliche Kulturen, sie müssen sein. Sie machen das Zusammenleben erst möglich.
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