
Als Ursula von der Leyen an vor 100 Tagen ihr neues Amt antrat, war vom Coronavirus in Europa noch keine Rede. Und an der griechisch-türkischen Grenze herrschte Ruhe. Der Brexit Ende Januar beherrschte die Schlagzeilen. „Es gab viele offene Fragen, aber die heutigen standen nicht auf dem Programm“, räumte die seit dem 1. Dezember 2019 amtierende Kommissionspräsidentin und erste Frau auf dem Chefsessel der Union am Montag ein. Den besonderen Anlass nutzte „VdL“, wie Ursula von der Leyen im in Abkürzungen verliebten Brüssel genannt wird, um vor allem in Sachen Migration den Eindruck allzu großer Härte geradezurücken. „Das Recht, um Asyl zu bitten, ist ein fundamentales Recht“, betonte sie. Die Situation an der griechischen Außengrenze der Gemeinschaft müsse gelöst werden. Aber nicht nur die Übergänge sollten geschützt werden, die Flüchtlinge davor bräuchten gleichzeitig Hilfe.
Es war nicht der einzige Versuch, das Image der „eisernen Ursula“ abzustreifen – ein Ruf, der ihr inzwischen vorauseilt. Aus dem Inneren der Kommission wird von großen Erwartungen und hohem Leistungsdruck berichtet. Selbst hochstehende Generaldirektoren lassen durchblicken, dass die Kommissionspräsidentin „Ergebnisse haben will“ und „nicht begeistert“ reagiert, wenn diese länger brauchen. Sie sei „bislang eine Ankündigungsmeisterin, die schöne Überschriften für politische Projekte“ geliefert habe, aber eben nicht mehr, heißt es etwa aus FDP-Kreisen in Brüssel.
Von der Leyen konnte in den vergangenen 100 Tagen aber auch Punkte sammeln: Der Green Deal wurde schon innerhalb der ersten vier Wochen angekündigt, das erste Klimaschutzgesetz der Union auf den Weg gebracht. In Sachen Digitalisierung liegt ein Plan auf dem Tisch. Am heutigen Dienstag legt die Kommission ihre Industriestrategie vor, um die es in den eigenen Reihen offenbar heftige Auseinandersetzungen gab. „Bisher hat von der Leyen vor allem Fragen aufgeworfen, Antworten haben wir noch nicht so viele“, sagte ein Brüsseler Wirtschaftsvertreter in diesen Tagen.
Das liegt zum Teil am System der Europäischen Union: Die Kommission und ihre Präsidentin können eben nur Vorschläge machen, aber nichts aus eigener Kraft durchsetzen. Selbst wenn das Parlament mitspielt, stehen die Mitgliedsstaaten auf der Bremse – wie derzeit noch bei der mittelfristigen Finanzplanung, die vor annähernd drei Wochen beim Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs scheiterte. Selbst Staatsvertreter, denen von der Leyen ihre Überraschungswahl im vergangenen Juli verdankt, ziehen jetzt nicht mit.
Hinzu kommt eine tiefe Ernüchterung vor allem bei den deutschen Lobbyisten in Brüssel. Sie hatten sich über viele Jahre an den deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger gewöhnt, der keinen Empfang, keine Gelegenheit zu einer Rede und keine Besuchergruppe ausließ. Damit schuf er nicht nur große Nähe zu den Vertretern von Unternehmen und Verbänden, er trat – aller europäischen Ausrichtung seines Kommissionsamtes zum Trotz – auch als Kontaktmann für Deutschland auf. Nun stellt die Bundesrepublik zwar eine Präsidentin an der Spitze der Behörde, deren Amt bedingt aber eine hohe Neutralität und eine gewisse Unerreichbarkeit.
Intern präsentiert sich die Chefin sehr viel offener. Den Kreis ihrer Exekutiv-Vizepräsidenten, Vizepräsidenten und „normalen“ EU-Kommissare leite sie sehr kollegial, heißt es. Manch einer wünscht sich zwar „mehr Führung“, aber alle genießen es, dass von der Leyen nicht alles alleine macht, sondern – wie bei der Vorstellung des Coronavirus-Aktionsprogramms – gleich eine ganze Riege ihrer Kollegen mitbringt und auch diese „glänzen“ lässt. Am Montag sprach sie selbst von einem „fantastischen Team“. Wer hört das nicht gerne? So schwanken die Benotungen, je nachdem, wen man fragt, zwischen „Zwei“ und „Vier“. Wenn man das übersetzen will, heißt das wohl so viel wie: Die neue Kommissionspräsidentin hat selbst hohe Erwartungen ausgelöst, erfüllt hat sie diese bislang nicht. Aber dafür hat sie ja noch knapp 1700 Tage Zeit.
job4u ist die regionale Plattform, wenn es um Lehren und Lernen geht. Neben dem WESER-KURIER, der Handelskammer und der Handwerkskammer Bremen machen sich hiesige Firmen für junge Leute stark.
Das angepriesene Familienidyll ist ...