
Es braucht viel Mut, sich in Polen mit einer Regenbogenfahne sehen zu lassen. Durch Schals, Umhängetaschen und selbst bunt gestreifte Söckchen fühlen sich die Tugendwächter „provoziert“. Sie wissen Polens katholische Kirche und die nationalkonservative Regierung in Warschau hinter sich. Und dann schlagen diese selbsternannten Patrioten schon mal zu oder brüllen den angeblichen Päderasten ins Gesicht, wie entmoralisiert und „entartet“ sie doch seien. Als vorletzte Woche an Polens Schulen zum vierten Mal in Folge der Regenbogen-Freitag stattfand, eine Toleranzaktion für Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle, trauten sich viele Schulleiter nicht mehr, sich offiziell dazu zu bekennen. Denn sollte ein Gesetz in Kraft treten, das bereits die erste Lesung im Parlament hinter sich hat, drohen demnächst bis zu fünf Jahre Haft für fast jede Form der Sexualaufklärung in Polen.
"Stop Pedofilii" heißt das Bündnis rechtsklerikaler Abtreibungsgegner, die das Anti-Aufklärungsgesetz bereits im März diesen Jahres mit den notwendigen 100 000 Unterschriften ins Parlament einbrachten. Sie wollen Artikel 200b des polnischen Strafgesetzbuches verschärfen. Bislang wird dort all jenen eine Geld- oder Haftstrafe von bis zu zwei Jahren angedroht, die sich der "öffentlichen Werbung oder Zustimmung zur Pädophilie“ schuldig machen. Über die Kampagne wird in Polen hitzig debattiert.
Künftig sollen auch Lehrer, Gynäkologen, Ärzte, Psychologen, Priester, Journalisten, Sexualerzieher usw hinter Gittern kommen, wenn sie „Geschlechtsverkehr von Minderjährigen öffentlich propagieren oder gutheißen“. „Minderjährig“ sind für die „Stop Pedofilii“-Anhänger grundsätzlich alle unter 18-Jährigen.
Dabei findet auch in Polen erste sexuelle Handlungen Initiation schon im Alter von 13 Jahren statt. Ab 15 Jahren dürfen Jugendliche ihre Liebe sexuell völlig legal ausleben. Daran wollen die Rechtsklerikalen auch nichts ändern. Nur sollen die 15- bis 17-Jährigen dann mit fast niemanden mehr darüber reden dürfen. Natürlich können sie weiterhin, wie dies viele auch heute schon tun, Informationen im Internet suchen. Dazu steht kein Wort im Gesetzesprojekt. Doch Sexualkunde in der Schule, in dem die Jugendlichen verlässliche Informationen über Verhütungsmethoden, sexuell übertragbare Krankheiten oder auch das Wechselbad der Gefühle bekommen, soll es in Zukunft nicht mehr geben.
Statt das lebensferne und jugendfeindliche Projekt nach kurzer Beratung zu kippen, debattierten die regierenden Nationalpopulisten von Recht und Gerechtigkeit (PiS) stundenlang darüber. Die Kritik der Opposition fand kein Gehör. Am Ende der Debatte verwies die PiS den Gesetzentwurf an den zuständigen Parlamentsausschuss. Ob es dort in den nächsten Monaten auf Nimmerwiedersehen verschwindet oder bald doch wieder in veränderter Form im Plenum debattiert wird, hängt auch von den Protesten der Zivilgesellschaft ab. So hatten es empörte Polinnen vor wenigen Jahren geschafft, mit ihren landesweiten „schwarzen Protesten“ ein drohendes totales Abtreibungsverbot zu kippen. Auch dieses Projekt war vom Bündnis rechtsklerikaler Pro-Life-Organisationen ins Parlament eingebracht worden. Die anfängliche Zustimmung der PiS bröckelte damals angesichts der massiven Frauenproteste. Das totale Abtreibungsverbot landete schließlich in der Tonne.
„Hände weg von unseren Kindern“, skandierten aufgebrachte Eltern am Tag der Anti-Aufklärungsdebatte vor dem Sejm, dem polnischen Abgeordnetenhaus. Auch in zahlreichen anderen Städten gingen Jugendliche mit ihren Eltern auf die Straße. „Schande!“, riefen sie den pseudokatholischen Moralaposteln von „Stop Pedofilii“ zu.
Auch das Oberste Gericht Polens intervenierte bereits und kritisierte das geplante Gesetz als unvereinbar mit dem Bildungsauftrag des Staates: „Die Sexualkunde wurde mit Gesetz von 1993 eingeführt.“ An den Schulen solle auch über Verhütungsmethoden informiert werden. „Der Gesetzgeber kann nicht mit einem Gesetz einen Unterricht fordern, den er mit einem anderen Gesetz kriminalisiert“, heißt es in der Stellungnahme der Obersten Richter Polens.
Sollten die polnischen Parlamentarier diesem Votum des Obersten Gerichts nicht folgen, droht Polen demnächst nicht nur die „Stop Pedofilii“-Gleichsetzung von Sexualaufklärern mit Pädophilen, sondern auch eine neue Zensur: das Verbot, mit Kindern und Jugendlichen über menschliche Sexualität zu reden – und sie vor den Gefahren des sexuellen Missbrauchs zu warnen.
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