
„Die Polizei ist da.“ Mit diesen Worten weckte Basak Demirtas ihren Mann in der Nacht zum 4. November 2016, wie sie später der kurdischen Nachrichtenagentur Dihaber erzählte. Die Nachbarn in ihrem Haus im südosttürkischen Diyarbakir hätten sie angerufen und vorgewarnt, kurz darauf habe es an der Tür geklingelt. Noch in derselben Nacht nahm die Polizei ihren Mann – Chef der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtas – fest. Ebenso erging es der Co-Parteichefin Figen Yüksekdag und zahlreichen HDP-Abgeordneten.
Ein Jahr sitzen Demirtas und Yüksekdag nun bereits in Untersuchungshaft. Der 44-jährige Demirtas mehr als tausend Kilometer entfernt von seiner Familie im Hochsicherheitsgefängnis der westtürkischen Stadt Edirne, die 46-jährige Yüksekdag im ebenfalls in der Westtürkei gelegenen Kocaeli. Ihnen werden in getrennten Verfahren unter anderem Leitung und Unterstützung einer Terrororganisation vorgeworfen. Gemeint ist damit die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. Für Yüksekdag fordert die Staatsanwaltschaft bis zu 30 Jahre Haft. Demirtas muss nach Angaben seines Anwalts Mahsuni Karaman sogar mit rund 140 Jahren Haft rechnen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnet Demirtas als „Terroristen“ und sieht die HDP als Arm der PKK, einen Vorwurf, den die Partei entschieden zurückweist.
Sprung über Zehn-Prozent-Hürde
Die beiden HDP-Anführer sind maßgeblich beteiligt an dem Erfolg der Partei bei der Parlamentswahl im Juni 2015. Damals schafften die HDP zum ersten Mal die Zehn-Prozent-Hürde und den Einzug ins Parlament. Damit verlor die islamisch-konservative Regierungspartei AKP zum ersten Mal die absolute Mehrheit – eine herbe Niederlage für den AKP-Mitgründer Erdogan. Bei Neuwahlen im November desselben Jahres erlangte die AKP zwar ihre absolute Mehrheit zurück, die HDP verhinderte aber mit einem erneuten Einzug ins Parlament zunächst auch die Einführung des von Erdogan gewollten Präsidialsystems. Das setzte der Präsident im April 2017 per Referendum dann doch noch durch.
Der HDP war es damals gelungen, neben ihrem Kernthema Kurdenrechte auch Themen wie Ökologie, Frauenrechte und Gleichberechtigung zu besetzen. Sie sprach damit auch nicht-kurdische Wähler an und bot einen linksliberalen Gegenentwurf zum autoritär-konservativen Kurs der AKP. Mit Demirtas hatte die Partei zudem einen charismatischen und wortgewandten Anführer. Für HDP-Sprecher Ayhan Bilgen ist dieser Erfolg auch ein Grund für die stetige Zunahme des Drucks auf die Partei nach der Parlamentswahl. Nach Angaben der Partei befinden sich mit Demirtas acht HDP-Abgeordnete in Untersuchungshaft. Dazu kommt Yüksekdag, die ihr Mandat im Februar wegen eines rechtskräftigen Gerichtsurteils verlor und später auch den Parteivorsitz. Tausende HDP-Politiker wurden nach dem Putschversuch vom Juli 2016 festgenommen, fünf verloren ihren Abgeordnetenstatus. Damit bleiben der HDP nur noch 54 Sitze im Parlament. Nach Angaben der DBP, des regionalen Ablegers der HDP, setzte die Regierung zudem Bürgermeister in 94 Gemeindeverwaltungen ab und Staatsverwalter ein. Demnach stehen nur noch acht HDP- oder DBP-Gemeinden nicht unter Zwangsverwaltung.
Prozessstart am 7. Dezember
Ist die Partei damit überhaupt noch funktionsfähig? HDP-Sprecher Bilgen sagt, seine Partei habe es trotz der Einschränken geschafft, ihre „Stärke zu bewahren“. Das habe man beim Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems im April gemerkt. Dass nur ein knappes „Ja“ für Erdogan herauskam, sei auch der HDP zu verdanken. Das Volk sei jedoch „verunsichert“ und schrecke inzwischen vor offener Unterstützung seiner Partei zurück – aus Angst, selbst ins Visier der Regierung zu geraten. So seien in den HDP-Gemeinden nicht nur die Bürgermeister, sondern gleich alle von der HDP eingesetzten Gemeindearbeiter mit abgesetzt worden. „Wenn man beginnt, die Gemeindearbeiter zu bestrafen, bestraft man die Gesellschaft“, sagt Bilgen.
Den Weg für die Strafverfolgung von Demirtas, Yüksekdag und anderen HDP-Abgeordneten, bereitete die Aufhebung der Immunität im Juni 2016. Schon alleine diese Maßnahme sei verfassungswidrig gewesen, kritisiert Demirtas‘ Anwalt Karaman. Insgesamt gebe es 32 Verfahren gegen seinen Mandanten.
Prozessstart in dem Verfahren, für das Demirtas in Untersuchungshaft sitzt, ist der 7. Dezember. Die Anklageschrift enthalte „keinen einzigen Beweis“, erklärt Karaman. Als solche angeführt würden Reden von Demirtas im Parlament oder auf Wahlkampfveranstaltungen sowie Telefongespräche. Das Telefon von Demirtas sei abgehört worden, als er noch die Immunität besaß, sagt Karaman. Das sei damit illegal. Demirtas nutze die Zeit in Haft, um sich der Kunst zu widmen. Zwei Bilder wurden schon veröffentlicht. Außerdem schrieb der HDP-Chef ein Buch mit dem Titel „Morgendämmerung“. Die ersten Auflagen des Erzählbands waren sofort vergriffen..
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