
Die Lage hat sich binnen weniger Wochen dramatisch zugespitzt: Rund eine Million Menschen sind in der syrischen Rebellenhochburg Idlib auf der Flucht vor russischen Bombern, Angriffe der türkischen und syrischen Armee führen zu immer mehr Not und Elend. Der zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vereinbarte Waffenstillstand ist bislang weitgehend eingehalten worden und gibt den Menschen ein wenig Hoffnung – doch ähnliche Absprachen wurden in den vergangenen Jahren immer wieder gebrochen. Zeitgleich kommt es zu hässlichen Szenen an der türkisch-griechischen Grenze. Erdogan hat das Flüchtlingsabkommen mit der EU de facto außer Kraft gesetzt und die Grenztore geöffnet. Die griechische Polizei versucht nun, mit Schlagstöcken und Tränengas die Flüchtlinge zurückzudrängen.
Die Situation in der vier Millionen Einwohner zählenden Provinz Idlib und die Lage an der Grenze zu Griechenland waren auch Kernthemen einer Türkei-Reise von Europaparlamentariern, an der die Grünen-Politikerin Katrin Langensiepen teilgenommen hat. Sie ist stellvertretendes Mitglied des Außenausschusses des Europäischen Parlaments. Vor allem beim Besuch im Regierungsviertel von Ankara gab es einige Überraschungen. „Ich hatte eher diplomatische Gespräche erwartet. Dann war ich aber doch sehr überrascht vom maximalen Selbstbewusstsein unserer türkischen Gesprächspartner“, erzählt die Abgeordnete aus Hannover. Die Gesprächspartner waren hochkarätig, darunter Außenminister Mevlüt Cavusoglu und Innenminister Süleyman Soylu. Letzterer wurde sogar richtig laut: Langensiepen hatte ihn mit der Abschiebung von unbegleiteten Flüchtlingskindern konfrontiert.
Rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien leben gegenwärtig in der Türkei. Ihre Lage, so erzählt Langensiepen, sei überall im Land präsent. Die anfängliche Willkommenskultur ist gekippt. Das Klima für die Syrer wird rauer. Zweistellige Arbeitslosenquote, rasanter Preisanstieg und wirtschaftliche Probleme nähren die zunehmenden Ressentiments gegen Migranten. Die Regierung Erdogan reagiert: Das Boot sei voll, behauptet sie. Weitere Flüchtlinge aus Idlib will sie nicht ins Land lassen. Forderungen aus dem Kreis der Reisegruppe, die türkische Grenze für die Flüchtlinge aus der Provinz zu öffnen, wurden schroff abgewiesen. Laut Langensiepen sagte Innenminister Soylu: „Wir machen gerne die Tür für die Syrer auf, wir schicken Sie aber zu Euch weiter.“ Stattdessen hat die Regierung die Grenze nach Griechenland geöffnet – angeblich, weil die Europäer ihren Zahlungsverpflichtungen gemäß Abkommen nicht zur Genüge nachgekommen sind.
Auf Seiten der geflüchteten Syrer gebe es durchaus Sympathien für Erdogan, schildert Langensiepen. „Der versucht immerhin, Assad zu stoppen“, so ist laut der gelernten Fremdsprachenkorrespondentin oft zu hören. Die meisten EU-Politiker sehen Erdogans Rolle weitaus kritischer, sowohl beim Kampf um Idlib als auch bei den Krawallen an der griechischen Grenze. Langensiepen spricht von einem „humanitären Desaster“ in Idlib. Es brauche jetzt Notfallkorridore, um den Menschen vor Ort zu helfen. Vor wenigen Tagen hat der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP), der CSU-Politiker Manfred Weber, Erdogan mit einem Stopp der Zollunion zwischen der Türkei und der EU gedroht. Andere Politiker wollen dem Präsidenten hingegen eine schnellere Ausweitung der Handelserleichterungen anbieten.
Langensiepen sieht bei der EU und den Mitgliedsstaaten eine erhebliche Mitschuld an den Szenen, die sich gegenwärtig Tag für Tag an der türkisch-griechischen Grenze und in den Flüchtlingslagern auf den Ägäis-Inseln Lesbos, Kos und Samos abspielen. Zwar sei viel Geld in Hilfsprogramme geflossen, doch die EU habe sich nicht einmal im Ansatz die Mühe gemacht, zu überlegen, wie das Flüchtlingsproblem in der Türkei zu lösen sei. Nun stehen Tausende an der griechischen Grenze, die Grenzpolizei versucht das Problem mit Gewalt in den Griff zu bekommen. „Das Image der EU und ihrer Mitgliedsstaaten ist in dieser Frage mittlerweile maximal schlecht“, kommentiert die Hannoveranerin die Situation. In ihren Augen die beste Lösung: Die Bundesländer sollten Kontingente von Flüchtlingen aufnehmen. Einige deutsche Städte haben sich schon dazu bereiterklärt – darunter ist auch Bremen.
In Brüssel aktiv für Bremen
Katrin Langensiepen ist Europaabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen, sie lebt in Hannover. Künftig wird Bremen ihre zweite Heimat werden - zumindest politisch. Sie wird die Bremer Interessen in Brüssel und Straßburg vertreten, so ist es mit dem Landesverband abgestimmt. Der Grund: Die langjährige Bremer Europaabgeordnete Helga Trüpel war nicht mehr zur Wahl im Mai 2019 angetreten. Kandidatin Henrike Müller hatte nur knapp einen Sitz verpasst. Langensiepen will sich mit Blick auf Bremen vor allem um die Themen Sozialpolitik, Wohnen, Häfen und Küstenschutz kümmern.
job4u ist die regionale Plattform, wenn es um Lehren und Lernen geht. Neben dem WESER-KURIER, der Handelskammer und der Handwerkskammer Bremen machen sich hiesige Firmen für junge Leute stark.