
Am Breivika-Hafen in Tromsø, Norwegen, steigt an diesem Freitagnachmittag eine seltsame Party. 17 Uhr, Pier 25, stapelweise Schiffscontainer, rot, weiß, blau. Daneben ein Festzelt, turnhallengroß. Im Inneren Livemusik, feierliche Bläser, Menschen gruppieren sich um Stehtische, man trinkt Champagner. Doch Kleid oder Anzug trägt hier kaum jemand, stattdessen Funktionsjacken, Trekkingschuhe, Warnwesten; Reflektorstreifen blinken im Scheinwerferlicht.
Was wunderlich anmutet, ist der Beginn von „Mosaic“. Wenige Minuten später werden mehr als 100 Forscher den deutschen Eisbrecher „Polarstern“ besteigen, ein Jahr wird das Forschungsschiff des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts (Awi) durch die Arktis driften. 19 Nationen beteiligen sich an der einzigartigen Expedition, 140 Millionen Euro ist sie teuer, die Vorbereitungen dauerten Jahre. Denn im Eis sollen die Wissenschaftler umfangreiche Messungen anstellen, Wissen mitbringen, das der Klimaforschung fehlt.
Doch zuvor, sagt Antje Boetius auf der Festbühne, sollen sie gebührend verabschiedet werden. An die Gäste gerichtet hebt die Direktorin des Awi das Glas: „Auf das großartige Abenteuer, das heute beginnt!“ Auch Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) ist gekommen, kurz zuvor hat sie sich bei einer Führung das Schiff zeigen lassen. „Ich wünsche Ihnen, dass Sie heile zurückkommen“, sagt sie. Und: „Sie schreiben in den nächsten Monaten Geschichte.“
Von Tromsø aus wird die „Polarstern“ Kurs auf Norden nehmen. Nach zehn Tagen wird sie auf Eis treffen, einen Weg in die weiße Oberfläche pflügen. Der Kapitän wird die Maschinen auf Leerlauf schalten, die Menschen an Bord werden warten. Darauf, dass das Eis das Schiff umschließt und mitnimmt.
Denn das Eis bewegt sich. Die natürliche Strömung, die sogenannte Transpolardrift, treibt es von Sibirien über den Nordpol bis zur Framstraße. Dort, zwischen Grönland und Spitzbergen, verlässt es den Arktischen Ozean und schmilzt. Die „Polarstern“ soll mitreisen, ein Jahr lang. Das Eis, es wird die Forscher an Orte bringen, die sonst nicht zu erreichen wären. Schon in wenigen Wochen wird das Meereis so dick sein, dass selbst das Tausende Tonnen schwere Schiff es nur mit Mühe durchdringen könnte. Deshalb kommen die Forscher jetzt, im Spätsommer. Auf einer Eisscholle werden sie ein Forschungscamp um das Schiff aufbauen, ein schwimmendes Labor im Nirgendwo.
Vieles wissen die Forscher bereits. Sie wissen, dass sich die Polregion schneller erwärmt als jede andere; sie wissen, dass verschiedene Rückkopplungseffekte diese Entwicklung noch verstärken. Bilden sich etwa Wasserpfützen auf der Eisoberfläche, nehmen die mehr Energie auf als das Eis, das die Sonnenstrahlung reflektiert. Zusätzlich gelangt durch das dünnere Eis mehr Wärme aus dem Ozean in die Atmosphäre. Was die Forscher nicht wissen, ist, was genau das bedeutet. Denn nur mit exakten Daten lassen sich exakte Klimamodelle erstellen. Und die braucht es, wenn die Wissenschaftler zuverlässig prognostizieren wollen, wie sich das Klima in der Arktis in den kommenden Jahrzehnten entwickeln wird. Das ist wichtig, längst nicht nur für die Arktis selbst. Klimaküche nennen die Forscher das: Was in der Polregion passiert, hat Auswirkungen auf den Rest der Erde. Geringere Temperaturunterschiede zwischen der Arktis und den Tropen destabilisieren die Luftdruckmuster, Kaltluft gelangt in die gemäßigten Breiten, gleichzeitig strömt warme Luft in die zentrale Arktis – was deren Erwärmung weiter beschleunigt.
Was das heißt? Für Deutschland, Europa, den Rest der Welt? Dazu können die Forscher bislang nur ungefähre Angaben machen. „Mosaic“ soll das ändern. Etwa 600 Wissenschaftler werden sich an der Expedition beteiligen. Biologen, Physiker, Chemiker, Atmosphärenforscher. Die meisten von ihnen verbringen zwei bis drei Monate auf der „Polarstern“, zwischendurch wird über Zubringerschiffe und Flugzeuge Personal ausgetauscht. Organisiert wird die aufwendigste Arktisexpedition aller Zeiten vom Awi.
Einer, der weiß, was das bedeutet, ist Thomas Krumpen. Der 40-Jährige ist Meereis-Physiker am Awi – und einer der zentralen Koordinatoren von "Mosaic". Ein Nachmittag im August, Krumpens Zweier-WG in Bremen-Schwachhausen, 30 Tage bis zur Abfahrt. Krumpen – kurzgeschorenes Haar, hellblaues Hemd, fester Händedruck – sitzt im Garten hinter dem Haus und blättert in Papieren.
Gerade hat er mit dem Reeder des russischen Eisbrechers „Akademik Fedorov“ geskypt, der die „Polarstern“ begleiten wird. In 15 Kilometern um das Forschungscamp auf dem Eis wird die Crew zusätzliche, autonom arbeitende Messgeräte ausbringen. Krumpen ist Fahrtleiter; anderthalb Monate wird das Schiff unter seiner Führung unterwegs sein.
Zwei Stunden dauerte das Gespräch, es gibt viel zu klären. Wann können die Forscher ihre Kammern beziehen? Wer teilt ein Zimmer mit wem? Wann wird das Schiff beladen? All das entscheidet Krumpen, all das muss er anderen mitteilen, per E-Mail, per Telefon. Seit zwei Jahren bereitet er sich intensiv auf die Expedition vor. Krumpen, Typ Ruhepol, mehr als 20 Expeditionen auf dem Buckel, Arktis, Antarktis, Russland, Kanada, USA, ist sehr offensichtlich keiner, der zu Übertreibungen neigt. „Mosaic“ nennt er „eine Mords-Challenge“.
Das sagt einer, der das Managen liebt, der schon immer gern systematisch dachte. Bevor Krumpen Klimaforscher wurde, studierte er Forstwirtschaft. Doch lieber noch, als selbst in den Wald zu gehen, betrachtete er ihn von oben. „Ich habe mir Satellitenaufnahmen angeguckt und überprüft, ob es irgendwo kranke Bäume gibt, ob irgendwo ein Schädling unterwegs ist, den man bekämpfen müsste.“ In den USA studierte er Fernerkundung, lernte, wie sich die Analyse von Satellitenbildern im Umweltmonitoring einsetzen lässt.
Krumpen kann das: den Überblick behalten, Lösungen finden. Perfekt für „Mosaic“. Denn an Bord geht die Organisiererei weiter. Krumpen plant sämtliche Abläufe, koordiniert Meetings und Helikopterflüge, ist Ansprechpartner für alle. Sechs Wochen, 24 Stunden am Tag. 140 Personen sind mit ihm auf der „Akademik Fedorov“ unterwegs, davon knapp 90 Wissenschaftler, mehr noch als auf der „Polarstern“. Eine Extremsituation, sagt Krumpen, für ihn, für alle anderen. „Normalerweise geht man nach einem Arbeitstag nach Hause und lässt den Job hinter sich“, sagt er. „Diese Rückzugsmöglichkeit hat man an Bord nicht. Das Schiff ist wochenlang unsere Welt.“ Für ihn heißt das: sein Team beobachten, nicht nur als Kollegen, auch als Menschen. Schlägt irgendwem die Enge aufs Gemüt? Nimmt einer zu wenig Rücksicht? Dann muss Krumpen reden, helfen, vermitteln.
Work-Life-Balance, an Bord ein schwieriges Unterfangen. Trotzdem, ein bisschen Zerstreuung, sagt Krumpen, müsse drin sein. Es gibt eine Sauna und ein Fitnessstudio, eine Bar, Film- und Spieleabende, auf der „Polarstern“ sogar einen kleinen Pool.
Einen Monat später, früher Donnerstagabend, 24 Stunden bis zur Abfahrt. Krumpen steht in grellgelber Warnweste im Tromsøer Hafen, hinter ihm liegt die „Akademik Fedorov“, knallrot, 141 Meter lang. Seit sechs Uhr morgens ist Krumpen auf den Beinen: Schiff beladen, letzte Absprachen treffen, Wetter checken. Während er erzählt, gehen fünf Männer auf das Schiff zu, jeder von ihnen trägt ein Gewehr. Eisbärjäger. Vorsichtsmaßnahme, sagt Krumpen. Wenn die Forscher auf der Scholle unterwegs sind, seien Begegnungen mit Bären nicht ausgeschlossen. Alles schon passiert. Dann muss Krumpen weiter, Hände schütteln, die Männer an Deck führen.
Am Abend darauf bekommt Krumpen vom Trubel im Zelt nicht viel mit. In Gedanken ist er längst zwei Schritte weiter, längst draußen, auf dem Eis. Das Wetter, sagt Krumpen, sei unberechenbar, der arktische Winter hart. Heftige Stürme, bis zu minus 35 Grad, mit Beginn der Polarnacht totale Dunkelheit. Krumpens größte Sorge: dass sich keine Scholle findet, die das Camp auf dem Eis trägt. Macht ihn das nervös? Das nicht, sagt er, auch das sei Teil der Mission, die Ungewissheit, das Risiko. Man könne planen, so viel man wolle. Am Ende bestimme die Natur.
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