
Immer mehr Menschen nutzen Streaming über Anbieter wie Spotify, Deezer oder Apple Music. Dabei können die einzelnen Anbieter den Musikgeschmack der Nutzer mehr beeinflussen, als ihnen bewusst ist.
Dem Sänger Ed Sheeran ist etwas Traumhaftes gelungen: Der britische Singer-Songwriter hat Anfang März sein neues Album mit 16 Songs veröffentlicht – und alle 16 Songs sind in den Top 20 der britischen Single-Charts gelandet. Auch in Deutschland schaffte er einen Rekord: Er stieg nicht nur mit seinem Song „Shape Of You“ auf Platz eins der Single-Charts ein, sondern brachte noch fünf weitere Songs in die Top 20. Ein solcher Coup ist keinem vor ihm in Deutschland gelungen, nicht einmal Michael Jackson. Und der schaffte posthum immerhin fünf Top 20-Singles.
Wie ist es möglich, dass ein Künstler so erfolgreich ist, die Charts so dominiert und kaum noch Platz für andere neben sich lässt?
Einen großen Anteil an diesem Charts-Erfolg hat die Art und Weise, wie Musik heute oft konsumiert wird: Das Streaming über Anbieter wie Spotify, Deezer oder Apple Music. Das erlebt einen rasanten Boom. Spotify, 2006 in Stockholm gegründet, hat in diesem Monat die Marke der 50 Millionen zahlenden Kunden weltweit erreicht.
Andere Anbieter eingerechnet, nutzen etwa 200 Millionen Menschen Musikstreaming-Dienste. In Deutschland sind es vier von zehn Internetnutzern, fand eine Umfrage des Verbandes Bitkom heraus. Das entspricht etwa 20 Millionen Menschen.
2016 erzielte die deutsche Musikindustrie schon knapp ein Viertel ihrer Einnahmen mit bezahltem Streaming, das waren ganze 72,7 Prozent mehr als noch ein Jahr zuvor. Streaming ist somit nach der CD (53,8 Prozent) der zweitgrößte Umsatzgenerator der Branche, noch vor Downloads (12,2 Prozent).
"Streaming macht die Musik kaputt"
Und weil das Streaming eine so große Bedeutung erlangt hat, wird in Deutschland seit Februar 2016 und in Großbritannien seit 2014 jeder Klick auf einen Song in die Berechnung der Charts einbezogen – sofern der Nutzer zur zahlenden Kundschaft zählt.
Künstler müssen sich nicht mehr entscheiden, welches Lied ihres Albums sie auskoppeln wollen. Es gibt keine Singles mehr, nur noch Songs. Und weil Nutzer nicht nur einen Song von Ed Sheeran hören, sondern auch seine anderen, sprudeln die Charts über.
„Das Beispiel Ed Sheeran zeigt: Das Streaming macht die Musik kaputt“, schreibt deshalb der Journalist Carsten Drees vom Technik-Portal Mobile Geeks. Er sieht die Gefahr, dass sich Nutzer von Streaming-Diensten berauschen lassen von dem Angebot, das ihnen die Algorithmen vorschlagen, dass diejenigen, die intensiv nach Musik suchen und sich mit ihr beschäftigen, zur Minderheit werden.
Massiver Erfolg im Zusammenhang mit Streaming
Drees findet: „Die Leute, die wirklich versuchen, über Spotify und Co. neue Musik zu entdecken (was übrigens fabelhaft funktioniert) scheinen immer deutlicher in der Minderheit zu sein gegenüber den Menschen, die einfach nur die Charts-Häppchen verschlingen, die ihnen überall vorgesetzt werden.“
Auch in Großbritannien wird der massive Erfolg Ed Sheerans im Zusammenhang mit Streaming diskutiert. Die britische Zeitung The Guardian schreibt, dass Streaming eine Passivität, immer und immer wieder das gleiche Musikstück zu hören, fördere.
Das Herz von Spotify sind die Algorithmen. Sie errechnen aus den Hörvorlieben des Nutzers, welche Musik er hört und schlagen ähnliche Songs vor. Von Einkaufsportalen ist der Vorgang bekannt. Wer etwa einen Gartenstuhl erworben hat, erhält die Anzeige: Kunden die diesen Gartenstuhl kauften, kauften auch: Sitzauflagen, einen Tisch, Blumentöpfe, Heckenschere.
Algorithmen analysieren auch die Songs selbst
Auf die Musik übertragen bedeutet das: Wenn Anna viel Cro, Sido oder Samy Deluxe hört, registriert der Algorithmus, dass sie auf Hip-Hop steht. Wenn andere Nutzer, die ebenfalls Hip-Hop mögen, einen Song gehört haben, den Anna noch nicht kennt, wird auch ihr dieser Song vorgeschlagen. Allerdings nur, wenn dieser Song auch zu Annas Musikstil passt. Denn die Algorithmen analysieren auch die Songs selbst.
„Die Algorithmen erstellen sogenannte Feature Extractions der Songs“, erklärt Wolfram Knelangen vom Bremer Start-up Ujam, das Software zur Musikproduktion entwickelt. „Die geben Infos zu Aspekten wie Songlänge, Tempo, Tonart oder dem Dynamikumfang.“ Aus diesen Angaben würden grobe Annahmen über zum Beispiel Genre oder Stimmung gemacht.
Etwa, dass ein langsames Tempo, eine Moll-Tonart und eine hohe Dynamik für einen getragenen, sentimentalen Song stehen. Das bedeutet: Der Algorithmus sucht für Anna Musik aus den Archiven der Produktionsfirmen, die zu ihrer Stimmung passt und ähnliche „Feature Extractions“ aufweist wie die Musik, die sie schon oft gehört hat.
Spotify setzt auf künstliche Intelligenz
Man könnte auch sagen: Der Algorithmus versucht, den musikalischen Takt einer Person zu finden. Ist er gefunden, stimmt er ein. Der Algorithmus erhält dann den Rhythmus fortdauernd mit Vorschlägen am Leben.
Damit diese möglichst exakt sind, durchsuchen die Algorithmen das Internet nach Informationen über Bands. Spotify schreibt dazu: „Wird etwa der Stil einer Band oft als alternativer Indie-Rock bezeichnet und hört jemand bereits andere Bands mit der gleichen Zuschreibung, wird ihm die Musik dieser Band vorgeschlagen.“ Spotify schlägt sogar Playlists vor, jeden Montag werden Kunden 30 Songs präsentiert.
Spotify setzt voll auf die künstliche Intelligenz – ganz im Gegensatz zu anderen Anbietern wie etwa Apple Music, die stärker mit Kuratoren und Musikexperten arbeiten. 2014 etwa kaufte Spotify die Firma „Echo Nest“, die die Algorithmen größtenteils entwickelt hat, kürzlich kam „Sonalytic“ hinzu, das ebenfalls Audios analysiert. Seit etwa zwei Jahren gibt es zudem die Möglichkeit, ganze Playlists mit Stimmungen zu verknüpfen (Mood-Targeting).
Algorithmen können zur Filterblase führen
Doch wie wirkt sich all das auf unseren Musikgeschmack aus? Hat das stetige Optimieren, das Vorschlagen der sich ähnelnden Musik Auswirkungen auf das, was wir hören? Geht es nach Udo Raaf, dem Gründer des größten deutschsprachigen Musikblogs Tonspion, verbreite sich bei Spotify vor allem das, was die Menschen schon kennen.
Nicht „der heißeste Scheiß“ werde gehört, sondern „die immer gleichen altbekannten Songs“. Der „Music Consumer Insight Report“, den der Bundesverband der Musikindustrie erstellt hat, gibt ihm recht. Der Studie zufolge hören 81 Prozent der Youtube-Nutzer nur die Musik, die sie schon kennen.
„Ob die Algorithmen den Musikgeschmack verändern, hängt stark vom Nutzerverhalten ab“, sagt Musik- und Softwareexperte Wolfram Knelangen von Ujam. „Wenn man passiv ist und nicht selbst nach Musik sucht, sondern sich nur von den Vorschlägen berieseln lässt, können die Algorithmen natürlich zu einer Filterblase führen.“ Dann höre man immer nur noch Ähnliches.
"Das Riecht nach Technikfeindlichkeit"
Doch Streaming habe auch positive Aspekte, sagt er: „Es haben sich auch aufgrund des Streamings so viele Subgenres gebildet, weil sich Fans und Künstler jetzt leichter finden können. Selbst die ausgefallenste Gothic-Band aus Finnland kann im Netz ihre Anhänger finden, und ausverkaufte Konzerte spielen, auch wenn sie vorher nie im Mainstream-Radio oder -Fernsehen auftauchte.“
„Das pauschale Kritisieren der Algorithmen scheint mir zu leicht und riecht für mich nach Technikfeindlichkeit“, findet Knelagen. Die Konsumenten, auch im Musikbereich, seien so potenziell einflussreich wie nie. „Früher war man auf das Urteil des Mitarbeiters im Plattenladen oder der Musikzeitschrift angewiesen, welche Musik angeblich gut ist. Heute kann jeder mit ein paar Klicks die passende Musik finden.
Knelangen hält die Frage danach, ob Algorithmen unseren Musikgeschmack verändern, für eine Henne-Ei-Frage. Er fragt: „War die Technik zuerst da, oder ist die Technik nur Vehikel und Verstärker für Vorlieben und Wünsche der Konsumenten?“ Auch Florian Drücke, der Geschäftsführer des Bundesverbands der Musikindustrie, stellt die Diskussion über Ed Sheerans Erfolg, über Streaming und über Chart-Platzierungen in einen größeren Kontext.
Die Frage nach dem Umgang
Er sagt: „Übergeordnet geht es letztlich um die Frage – siehe etwa die aktuelle Diskussion über Echokammern – wie wir damit umgehen, wenn Algorithmen und künstliche Intelligenz zunehmend unser Leben bestimmen.“ Drücke kann sich zwar durchaus vorstellen, dass so etwas wie Mood-Playlists zu einem erweiterten Musikverständnis führen könnte. Und er sagt auch, dass das Streamen die Musik verändert – aber das hätten alle Medien zuvor auch, das sei bei der Schallplatte so gewesen, beim Radio, bei der CD oder beim Musikvideo.
Für Drücke und die dem Verband angehörigen Musikfirmen bedeutet die Digitalisierung zunächst einmal: Wie lässt sich die Musik am besten vermarkten, wie lässt sich damit noch Geld verdienen? Es sei nicht einfacher geworden, neue Künstler am Markt zu etablieren, sagt Drücke, „schon aufgrund der Vielzahl der Plattformen und des letztlich globalen Publikums.“
Auch Youtube stellt für die Produktionsfirmen und Künstler ein Problem dar. Es sei ein „skandalöser Zustand“, dass Youtube immer noch keine regulären Lizenzen für die Musik zahle. Drücke verweist aber auch auf einen ganz anderen Trend, der parallel zum Boom des Online-Streamings anhalte: Vinyl-Schallplatten sind gefragt wie nie, der Umsatz stieg in einem Jahr um 40 Prozent.
job4u ist die regionale Plattform, wenn es um Lehren und Lernen geht. Neben dem WESER-KURIER, der Handelskammer und der Handwerkskammer Bremen machen sich hiesige Firmen für junge Leute stark.