
Unabhängig von der Inzidenz durften erst die Friseure wieder öffnen, nun auch Buchhandlungen, Blumengeschäfte und Gartenmärkte. Leuchtet Ihnen diese Reihenfolge und Auswahl ein, Frau Reuther?
Carolin Reuther: Das treibt uns seit Mittwochabend verstärkt um. Es war gefühlsmäßig eine sehr durchwachsene Woche für den Einzelhandel. Erst gab es einen doch positiv zu bewertenden Senatsbeschluss, mit dem das Thema „Click and collect“ erweitert wurde um „Date and collect“. Entgegen der ursprünglichen Idee, immer nur einen Haushalt als Kunden pro Geschäft zuzulassen, ist Bremen da ja auch mutig vorangegangen.
Aber dann ...... wurden Blumenläden und Buchhandlungen neu kategorisiert als Geschäfte, die Artikel des täglichen Bedarfs führen. Das relativiert alles wieder. Wir freuen uns natürlich für die Buchläden und Blumenhändler. Jeder, der wieder seinen Geschäften nachgehen kann, ist ein Gewinn. Aber der Einzelhandel, der jetzt nur beschränkt aufmachen darf, der leidet. Und er versteht das Ganze natürlich auch nicht. Warum soll das, was bei Blumen und Büchern geht, nicht auch bei Mode oder Spielwaren funktionieren?
Gibt es eine medizinische Begründung, Herr Eikenberg?Martin Eikenberg: Die sehe ich nicht. Es ist eher eine politische Bewertung der Wichtigkeit einzelner Branchen und Bereiche.
Wann bekommen wir denn ein branchenübergreifendes Konzept, wie es die Handelskammer fordert, Herr Bovenschulte?Andreas Bovenschulte: Das haben wir ja jetzt vorgelegt nach dem Treffen von Bund und Ländern am Mittwoch. Aber vorab zur Einordnung: Lebensmittelgeschäfte, Drogeriemärkte und einige andere Geschäfte sind immer offen geblieben, weil die Bevölkerung ja auch während eines Lockdowns mit Waren des täglichen Bedarfs versorgt werden muss. Schon das war eine schwierige Abgrenzung, weil die großen Lebensmittel-Vollsortimenter natürlich auch Nebensortimente haben, beispielsweise Kleidung, Haushaltswaren und Bücher. Und es gibt natürlich Grenzfälle: Baumärkte etwa oder Blumenläden und Gartenmärkte, deren Ware ja schnell verdirbt.
Im Gegensatz zu Büchern.Andreas Bovenschulte: Natürlich kann man das kritisieren und fragen: Warum dürfen Buchhandlungen aufmachen, während Spielwarengeschäfte geschlossen bleiben? Aber egal, welche Entscheidung wir getroffen hätten: Man hätte die Grenzziehung immer kritisieren können. Es gibt zwischen den beiden Extremen „alles dicht machen“ und „alles öffnen“ keine zu einhundert Prozent gerechte Lösung. Wir hätten uns also zwischen Schwarz und Weiß entscheiden müssen. Da finde ich eine schrittweise Öffnung besser, auch wenn sie in Teilen schwerer zu erklären ist.
Carolin Reuther: Man kann ja gar nicht von dem Einzelhandel sprechen. Die Lebensmittelhändler haben im vorigen Jahr hervorragende Umsätze gemacht, andere Segmente und Branchen können sich noch einigermaßen über Wasser halten. Aber beim klassischen Anlass- und Genuss-Einkaufen, etwa von Mode, Schuhen, Schmuck, Parfüm oder auch Spielwaren liegt die Branche wirklich am Boden. Da werden jetzt einige nicht mehr durchhalten können.
Mit welchen Folgen für uns alle?Carolin Reuther: Dann werden unsere Innenstädte, aber auch die Stadtteile ein ganz anderes Bild bekommen. Dann werden ganze Lagen wegbrechen. Alle, die saisonale Ware anbieten, haben schon sehr gelitten, etwa die Textilbranche. Die haben das Problem der Lieferketten und des Wareneinsatzes. Das wird durch die Überbrückungshilfen höchstens etwas abgefedert.
Herr Eikenberg, nun sagt auch das RKI, dass das Infektionsrisiko in Geschäften mit entsprechenden Hygienekonzepten ähnlich gering sei wie auf einer Parkbank oder auf dem Spielplatz. Was spricht denn noch gegen eine maßvolle Wiedereröffnung?Martin Eikenberg: Rein theoretisch ist das Übertragungsrisiko sogar geringer in Geschäften, weil Sie dort dafür sorgen können, dass Masken getragen werden. Das können Sie bei Zusammenkünften im Freien gar nicht umfassend kontrollieren, schon gar nicht im privaten Bereich. Es geht also vor allem darum, die Kontakte dort zu reduzieren, wo es möglich ist. Zudem müssen zwei Dinge gewährleistet sein: dass die Gesundheitsämter es weiterhin schaffen, Kontakte zurückzuverfolgen und so weitere Infektionen vermeiden.
Und zweitens?Martin Eikenberg: Dafür zu sorgen, dass das Gesundheitssystem, das schon vor der Pandemie sehr stark belastet war, nicht überlastet wird. Jetzt ist es das aber schon. Da muss man abwägen, und das ist sehr schwer, weil alle berechtigte Gründe anführen können, warum ihre Bereiche oder Branchen geöffnet haben müssen. Aber Sie haben recht: Auf Parkbänken oder an Haltestellen sind die Übertragungen von Viren gerade bei Rauchern viel eher wahrscheinlich als in einem Supermarkt.
Dann liegt das Problem eher vor der Ladentür als dahinter? Oder auf dem Weg zur Ladentür?Martin Eikenberg: Das kann man so sagen. Die Läden selbst sind nicht das Hauptrisiko dieser Pandemie, aber sie sind eben leichter zu kontrollieren. Es ist einfacher, sie zu schließen, als private Feiern in Haushalten zu unterbinden. Oder zu kontrollieren, wie nahe sich Menschen in Schulen und Kitas, im ÖPNV oder während der Arbeit kommen. Das ist das Dilemma, das alles so ungerecht erscheinen lässt.
Andreas Bovenschulte: Lassen Sie mich eins noch mal sagen: Die Begründung für den Lockdown im Einzelhandel, in der Gastronomie und in der Kultur war ja nicht, dass hier erwiesenermaßen besonders viele Ansteckungen stattfinden. Ausschlaggebend war Folgendes: Wenn wir das Virus eindämmen wollen, müssen wir die Zahl sozialer Kontakte reduzieren. Und das schaffen wir, indem wir die Anlässe reduzieren, an denen sich Menschen treffen. Das hat in den letzten Wochen ja auch funktioniert, die Infektionszahlen sind deutlich gesunken.
Das ist nachvollziehbar, aber ein schwacher Trost für alle, die um ihre Existenz bangen.Andreas Bovenschulte: Ich verstehe jeden, der um seine Existenz bangt, und kann die Sorgen und den Ärger verstehen. Wir haben uns das ganz sicher nicht leicht gemacht, und man kann auch über jede einzelne Maßnahme diskutieren. Aber in ihrer Gesamtheit waren sie richtig und notwendig, davon bin ich überzeugt.
Das war der Blick zurück. Zu den jüngsten Beschlüssen der MPK sagten Sie: „Ich scheue mich zu sagen, dass es eine klare Perspektive ist, aber es ist eine Perspektive.“ Wo mangelt es für Sie noch an Klarheit, gerade gegenüber dem Einzelhandel?Andreas Bovenschulte: Was wir beschlossen haben, ist schon sehr komplex, und wenn sich das jemand einfacher gewünscht hätte, kann ich das verstehen. Aber eigentlich steckt doch eine einfache Logik dahinter: Wir haben zwei Wege zur Öffnung – einen schnellen und einen langsameren. Den schnellen Weg können wir nehmen, wenn die Inzidenz stabil unter einem Wert von 50 liegt, den langsameren bei einer Inzidenz zwischen 50 und 100. Auf dem schnellen Weg könnte übrigens theoretisch der komplette Einzelhandel am Montag öffnen.
Aber so weit sind wir ja noch nicht.Andreas Bovenschulte: Nein, wir liegen noch deutlich über einer Inzidenz von 50. Aber auch der langsamere Weg erlaubt jetzt schon das Termin-Shopping mit vorheriger Termin-Reservierung und einer gesicherten Kontakt-Nachverfolgung. Bleibt unsere Inzidenz in den nächsten Wochen stabil unter 100, können wir nach Ostern den Einzelhandel wieder vollständig öffnen. Dann haben wir ja gezeigt, dass das Infektionsgeschehen trotz der ersten Öffnungsschritte nicht steigt.
Das Prinzip von „Date & Collect“ ist klar: Einkaufen nach Terminabsprache und mit Kontaktnachverfolgung. Wie praxisnah ist das, Frau Reuther?Carolin Reuther:Zunächst ist diese reine Ausrichtung nach Inzidenzwerten schwierig. Das harte Stufensystem bringt uns immer wieder in die Situation, kurzfristig öffnen oder schließen zu müssen. Trotzdem haben wir uns natürlich über „Date & Collect“ als einen ersten Öffnungsansatz gefreut. Manchen wird es allerdings wenig helfen: Wer vor allem von Laufkundschaft lebt, wird durch Terminvereinbarungen kaum einen wirtschaftlichen Effekt verspüren. Aus den beratungsintensiven, inhabergeführten Geschäften gibt es aber auch positive Rückmeldungen – etwa dort, wo hochwertige Mode verkauft wird.
Warum sollten sich Kunden auf das umständliche Modell einlassen, statt weiter vom Sofa aus im Internet zu bummeln? Ohne subtilen Kaufzwang.Andreas Bovenschulte: Wenn ich Bekleidung kaufe, finde ich es immer ganz angenehm, wenn ich sie auch direkt anprobieren kann. Das ist doch besser, als etwas im Internet zu bestellen und dann regelmäßig zurückzuschicken, weil es leider nicht passte. Mit persönlich ist das zu aufwendig und zu umständlich. Aber Frau Reuther hat recht: „Date & Collect“ kann nur ein Einstieg sein, eine Art Brücken-Technologie bis zur wirklichen Öffnung des Einzelhandels.
In einer Umfrage der Viertel-Initiative bemerkten die Händler dort, dass Kunden Termine auch platzen lassen könnten. Sie wollen lieber wieder Laufkundschaft je nach Verkaufsfläche einlassen und im Zweifel Schlangen vor der Ladentür haben. Was spricht dagegen?Andreas Bovenschulte: Eins vorweg: Wir haben mit „Date & Collect“ einen Vorschlag der Handelskammer aufgegriffen, insofern gehen wir schon davon aus, dass die Händler das begrüßen. Natürlich wäre es am einfachsten, wenn wir die Geschäfte wieder ganz normal aufmachen würden. Dafür aber müssen wir die Inzidenz unter 50 drücken. Alles öffnen, egal wie hoch die Inzidenz ist – das will ja auch keiner.
Sie auch nicht, Frau Reuther?Carolin Reuther:Der Einzelhandel erkennt sicher an, dass Gesundheit im Grundsatz Vorrang vor dem eigenen Geschäft hat. Das haben sie doch mit Engelsgeduld im vorigen Jahr gezeigt: Da wurden effektive Hygienekonzepte entwickelt, die sich bis heute bewähren. Aber bei den aus der Inzidenz abzuleitenden Maßnahmen muss es eben auch um Existenzen, um Arbeitsplätze und nach so langer Zeit auch um eine Perspektive für das Umfeld gehen: die Gastronomie, die Kultureinrichtungen. Laufkundschaft kommt doch nur in die Stadt, wenn es dort auch andere Anlässe als Einkaufen gibt. Und der nächste Schritt muss jetzt kommen, nicht erst im April, auch im Hinblick auf das Ostergeschäft.
Die Handelskammer beklagt, dass alle Maßnahmen vor allem am Inzidenzwert festgemacht werden. Bremens Partnerstadt Rostock geht einen anderen Weg und bezieht sieben Indikatoren in ein Ampelsystem ein: Neben der Inzidenz werden dabei auch die Belastung der Gesundheitsämter und Krankenhäuser, der Anteil der Mutanten, der R-Wert, die demografische Zusammensetzung der Infizierten und örtliche Schwerpunkte berücksichtigt. Ist das ein gutes Modell oder zu kompliziert für Bremen?Martin Eikenberg: Bremen ist sicher intelligent genug, auch so ein Modell zu verfolgen. Es ist sehr differenziert, macht aber auch Mühe. Man muss sich all diese Zahlen genau anschauen, was jedoch sinnvoll ist. Wenn der Inzidenzwert über 50 steigt, kann das ja auch daran liegen, dass es in drei Altenheimen einen Ausbruch gibt. Das sagt aber überhaupt nichts über die Verbreitung der Infektion in der sonstigen Bevölkerung.
Der Inzidenzwert allein reicht also eigentlich nicht?Martin Eikenberg: Er ist allein zumindest ein bisschen sperrig. In Kombination mit den anderen Werten kann man ihn intelligenter auslegen. Ich halte das Konzept in Rostock für sehr, sehr gut und angebracht. Man kann genauer auf die jeweilige Situation reagieren.
Rostock macht das ja nicht alleine, sondern gemeinsam mit Münster und Tübingen. Könnte Bremen nicht der Vierte im Bunde sein?Andreas Bovenschulte:Wir haben das in Bremen auch diskutiert und begrüßen grundsätzlich einen komplexeren Ansatz, der nicht nur auf die Inzidenz abstellt. Aber der Teufel steckt im Detail. Nehmen wir das Drei-Stufen-Modell des Robert-Koch-Instituts: Demnach liegt bei einer Inzidenz zwischen 35 und 50 ein mittleres Infektionsgeschehen vor – aber nur dann, wenn 80 Prozent der Kontaktpersonen nachverfolgt werden können und weniger als zwölf Prozent der Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt sind. Zählen die Patienten aus Niedersachsen in den bremischen Kliniken da jetzt mit? Oder müssen sie herausgerechnet werden? Immerhin geht es ja um einen Wert für das Land Bremen. Darüber kann man trefflich diskutieren.
Sicher, es ist ein anspruchsvolles Instrument.Andreas Bovenschulte:Und ich gehe noch einen Schritt weiter. Womöglich haben Sie zwei Indikatoren, die für ein mittleres Infektionsgeschehen sprechen, und zwei, die für ein hohes sprechen. Dann müssen sie abwägen. Und auf dieser Basis lassen sich schwer rechtssichere Entscheidungen treffen. Genau das aber wird zu Recht von uns verlangt.
Carolin Reuther: Aber über den bisherigen Vorrang der Inzidenzwerte müssen wir diskutieren. Das ist ein viel zu enges Korsett. Ich verstehe, dass die RKI-Abstufung oder das Rostocker Modell kompliziert sind. Aber deshalb dürfen wir sie doch nicht aus den Augen verlieren.
Die letzte Frage an den Mediziner in der Runde: Müssen wir lernen, mit dem Virus zu leben? Oder wird unser Leben irgendwann wieder so sein wie 2019?Martin Eikenberg: Wir werden sicher länger mit diesem Virus leben müssen und voraussichtlich auch noch mit vielen weiteren, die folgen werden, auch neuen Corona-Viren. Es wird gut sein, wenn wir die Hygienemaßnahmen nicht verlernen und uns für zukünftige Pandemien besser vorbereiten: mit Bevorratung von Schutzkleidung, Impfstoffproduktion, Testentwicklung und den Maßnahmen zu Kontaktbeschränkungen.
Das Gespräch führte Joerg Helge Wagner.
Carolin Reuther ist Geschäftsführerin der City-Initiative Bremen, Marketingexpertin und gelernte Kulturwissenschaftlerin.
Andreas Bovenschulte ist seit 2019 Bürgermeister Bremens und Präsident des Senats. Der Sozialdemokrat ist Jurist.
job4u ist die regionale Plattform, wenn es um Lehren und Lernen geht. Neben dem WESER-KURIER, der Handelskammer und der Handwerkskammer Bremen machen sich hiesige Firmen für junge Leute stark.