
Die Vergangenheit des Fußballprofis Roman Shirokov enthält wahrlich kaum Details, die den russischen Mittelfeldspieler für das Amt eines Mannschaftskapitäns bei der EM qualifizieren würden. Von den Leitfiguren eines Kaders wird ja in der Regel ein gewisses diplomatisches Geschick verlangt – die Russen allerdings werden in Frankreich von ihrem wohl streitbarsten Spieler angeführt.
Wobei eine gehörige Portion Lebenserfahrung vielleicht doch für den 34-Jährigen spricht. Denn es lässt sich feststellen: Shirokov hat eine Menge erlebt. Seine Karriere war geprägt von Unprofessionalität und Alkoholexzessen, einmal täuschte er bei Torpedo Moskau sogar einen Beinbruch vor und schwänzte zwei Monate lang Training und Spiele. Um glaubwürdiger zu wirken, hatte er sich einen Gips angelegt – aber natürlich flog der Schwindel auf. Später trug er öffentlich Konflikte mit dem ehemaligen Nationaltrainer Dick Advocaat aus; seine Zeit bei Rubin Kasan endete, als er über den als streng gläubig geltenden Trainer Kurban Berdyev sagte: „Der einzige Gott, den er wahrnimmt, ist Mr. Franklin auf der 100-Dollar-Banknote.“
Es gibt zahllose Anekdoten dieser Art. Sportlich aber ist der Mittelfeldstratege, der aktuell bei ZSKA Moskau spielt, immer noch unverzichtbar für die russische Auswahl, die sich erst per Kraftakt für das letzte große Turnier vor der Heim-WM 2018 qualifizierte. Als sich abzeichnete, dass die EM-Teilnahme gefährdet war, sammelten Fans Geld, um den mit einem aberwitzigen Gehalt alimentierten, aber erschreckend erfolglosen Trainer Fabio Capello loswerden zu können. Am Ende erhielt der Italiener eine Abfindung von rund 15 Millionen Euro, sein Erbe trat Leonid Sluzki an. Ein Russe, der nebenher ZKSA Moskau trainiert.
Danach habe sich „die Atmosphäre verändert“, erzählt Shirokov, „wir spielen jetzt offensiver, aber auch ausgeglichener, die Perspektive ist jetzt positiver. Das ist genau das, was wir gebraucht haben.“ Mit vier Siegen am Stück schafften die Russen den Turnaround, wobei die Gesamtstimmung vor den Gruppenspielen gegen England, Wales und die Slowakei von großer Skepsis geprägt bleibt. Kürzlich veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut „Wziom“ eine Umfrage, in der 73 Prozent der Bevölkerung angaben, Fußball sei ihnen gleichgültig. Nur acht Prozent würden sich als Fan bezeichnen – so wenige wie noch nie.
Auch der fußballerische Nachwuchs bereitet den Russen Sorgen. Seit der goldenen Generation um den immer noch starken Torhüter Igor Akinfeev, Flügelspieler Yuri Zhirkov und – den mittlerweile ausgeschiedenen – Superstar Andrej Arshavin kommen kaum noch aussichtsreiche Talente nach. So stehen heute praktisch nur Spieler im Kader der Nationalelf, die entweder in der heimischen Liga oder in einer der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken unter Vertrag stehen. Die Abschottungstendenzen gegenüber Westeuropa sind auch im Fußball erkennbar – Kapitän Shirokov positioniert sich dann auch erstaunlich klar im Konflikt von Wladimir Putins Großmacht gegenüber den westlichen Nationen. „Wir sind nicht so leicht einzuschüchtern“, sagt der Fußballer.
Dass Russland sich einerseits immer stärker einigelt, sich in zwei Jahren als WM-Gastgeber aber als offenes Land präsentieren soll, bereitet vielen Menschen Unbehagen. Und dann explodieren auch noch die Kosten für die WM. Der Duma-Abgeordnete Igor Lebedew, ein bekannter Provokateur, schlug kürzlich vor, die WM 2018 doch einfach zurückzugeben. Dabei spielte Geld lange Zeit überhaupt keine Rolle, wenn es darum ging, mit Großveranstaltungen im eigenen Land zu protzen – über 40 Milliarden Euro investierte der Staat etwa in die Olympischen Spiele von Sotschi, inzwischen aber hat sich die wirtschaftliche Lage deutlich verschlechtert. Die Sanktionen des Westens wegen der Ukraine-Krise haben tiefe Spuren hinterlassen, und der Währungsverfall verteuert für den Stadionbau wichtige Importe.
Wobei es zumindest einen kleinen sportlichen Hoffnungsschimmer gibt: Im vergangenen Jahr hat die U19 das Finale der Junioren-EM erreicht und auf dem Weg dorthin Deutschland besiegt. Aber die Spieler aus dieser Mannschaft, sie werden wohl erst für die WM 2018 interessant.
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Wir stellen die Mannschaften, die bei dem Turnier in Frankreich (10.06. - 10.07.) antreten, ausführlich vor. In diesem Dossier können Sie die Folgen unserer Serie "Die EM-Starter" nachlesen.