
Prag. Tomáš Rosický hat seine Zukunft ja längst hinter sich, und trotzdem ist der filigrane Spielmacher der große Hoffnungsträger der tschechischen Nationalmannschaft bei der EM in Frankreich. Das klingt paradox, aber Rosický war in seiner langen Karriere unabhängig von seinem Alter immer mehr eine Verheißung als eine konstante Größe. Das gilt heute für den 35 Jahre alten Routinier ebenso wie für das damals größte Talent Europas, das mit 19 von Sparta Prag zu Borussia Dortmund wechselte. Oder für den 25 Jahre alten Rosický, der dann vom BVB zum FC Arsenal in die Premier League ging.
Und wieder einmal hat der verletzungsanfällige Techniker eine desaströse Saison hinter sich. Nicht ein einziges Mal stand er für die „Gunners“ in der Meisterschaft auf dem Platz. Ab Ende Juni ist Rosický vertragslos, sein Kontrakt in London wurde nicht mehr verlängert. „Little Mozart“ tauften sie ihn einst in England hochachtungsvoll, weil seine elegante Art in besten Momenten noch immer außergewöhnlich ist. Deshalb sagt Tschechiens Nationaltrainer Pavel Vrba überzeugt: „Wenn ich von Journalisten zur Startelf gefragt werde, sagte ich immer: Ihr könnt Rosický sicher notieren. Immer, wenn ich seine technischen Möglichkeiten sehe, sehe ich, wie wichtig er für uns ist.“
Neben Vereinskollege Petr Čech ist Rosický der große, alte Mann dieser Auswahl. Die beiden Routiniers standen schon 2004 mit ihrem Heimatland im EM-Halbfinale, das gegen den späteren Turniersieger Griechenland 0:1 verloren wurde. Rosický hatte das Zeug zu einer Weltkarriere – aber wegen der vielen Verletzungen erlebte er fast mehr Tiefen als Höhen. Sein anfälliger Körper war einfach nicht für die Belastungen gemacht, sein Spitzname deutet das an: „Schnitzel“. Den verlieh ihm zu Dortmunder Zeiten ein deutscher Journalist, der dem schmalen Talent riet: „Junge, iss doch mal ein Schnitzel!“
„Einer für alle, alle für einen“
Trotz all der Rückschläge will er seine Karriere nicht beenden und nun mit der Auswahl seines Heimatlandes in Frankreich noch einmal zeigen, was er kann. Dieser Tage erzählte Rosický, wie ihn ein Brief eines Jungen aus einem syrischen Flüchtlingscamp noch einmal motivierte: „Er schrieb, dass es ihn unheimlich freuen würde, mich noch einmal spielen zu sehen. Das hat mich inspiriert, nicht aufzugeben.“ Aber wie fit kann einer sein, der zwölf Monate lang kein Punktspiel absolviert hat?
In tschechischen Medien wird die Gruppe mit Spanien, Kroatien und der Türkei als „Todesgruppe“ bezeichnet. Doch die Mannschaft geht auch mit Selbstbewusstsein in das Turnier: Die Qualifikation schloss sie als Gruppensieger ab, immerhin vor Island, der Türkei und Holland. Ein unumstrittener Leistungsträger ist Vladimír Darida, der im defensiven Mittelfeld das Spiel unablässig ankurbelt. Der Profi von Hertha BSC ist der laufstärkste Spieler der Bundesliga und fehlte in der Qualifikation bei den Tschechen keine Sekunde.
Der tschechische Trainer bevorzugt einen offensiven Stil
Darida verkörpert mit großer Leidenschaft wie kein anderer das offizielle Motto seiner Nationalmannschaft, das aus dem Roman „Die drei Musketiere“ von Alexandre Dumas entnommen ist: „Einer für alle, alle für einen.“ Darida wird in der Heimat schon mit dem großen Pavel Nedvěd verglichen. Doch solcherlei Vergleiche mag der bescheidene Spieler nicht. Seine Laufstärke wird die Mannschaft brauchen, der 25-Jährige ist einer der jüngsten in einer Stammelf, die in die Jahre gekommen ist. Neben Rekordnationalspieler Čech, 34, und Rosický, 35, sind etliche weitere Spieler schon jenseits der 30: Jaroslav Plašil, 34, von Girondis Bordeaux im Mittelfeld, die Abwehrspieler David Limberský, 32, von Viktoria Pilsen, Václav Procházka, 32, vom türkischen Erstligisten Osmanlispor. Oder Stürmer David Lafata, 34, von Sparta Prag. Ob die große Erfahrung der Mannschaft die mangelnde Spritzigkeit ausgleichen kann, ist eine spannende Frage. Auf der rechten Außenbahn in der Abwehrkette konkurrieren die beiden Bundesliga-Profis Pavel Kadeřábek, 24, von der TSG Hoffenheim und Werders Theodor Gebre Selassie, 29, um den Platz in der Startelf.
Trainer Vrba, 53, gilt als Verfechter eines offensiven Stils im 4-3-3- oder im 4-2-3-1-System. Vrba entwickelte einst Viktoria Pilsen zum Spitzenteam und Darida dort zum Spitzenspieler. Er scheut sich nicht, auch Spieler aus der international zweitklassigen tschechischen Liga zu berufen. Der Vereinsfußball im Land leidet unter geringem Zuschauerzuspruch und regelmäßigen Skandalen. Zuletzt wurden Schiedsrichter suspendiert, die offensichtlich betrunken ein Erstligaspiel leiteten. Slavia, einer der Prager Spitzenklubs, wurde jüngst von einem chinesischen Investor übernommen, der die Schulden tilgte und noch mehr Geld einsetzen will, damit Slavia bald international für Furore sorgt.
Dass die Nationalmannschaft an frühere Erfolge anknüpft, glauben nur notorische Optimisten. Nach dem Finaleinzug 1996 in England (Niederlage gegen Deutschland) blieb der Halbfinaleinzug 2004 der größte Erfolg der Tschechen. Es scheint, als bliebe die Karriere von Tomáš Rosický auch nach dem Turnier in Frankreich unvollendet.
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Wir stellen die Mannschaften, die bei dem Turnier in Frankreich (10.06. - 10.07.) antreten, ausführlich vor. In diesem Dossier können Sie die Folgen unserer Serie "Die EM-Starter" nachlesen.