Ein Augenzeuge aus freien Stücken
Vor 100 Jahren wurde Jan Karski geboren. Als Kurier der polnischen Exilregierung wurde er gezielt Augenzeuge des Holocaust. Er wollte der Welt aus eigener Anschauung berichten, was die Deutschen den Juden antaten.
Ein schmaler, eleganter Herr sitzt auf einem Sofa in seinem Arbeitszimmer in Washington. Blauer Anzug, helles Hemd, Krawatte, akkurat gefaltetes Einstecktuch. Er sitzt auffallend gerade, wirkt ausgesprochen kultiviert, ja, aristokratisch. Er schaut sekundenlang auf den Boden, bevor er zu sprechen anhebt; Englisch mit hartem polnischen Akzent. „Nun gehe ich 35 Jahre zurück.“ Er schweigt. „Nein“, sagt er und hebt abwehrend die Hand. „Nein, nein, nein“, sagt er, „ich gehe nicht zurück“. Der 64-Jährige bricht in Tränen aus und verlässt das Zimmer.
Jan Karski heißt der Mann, der 1978 sein Schweigen bricht und dessen Kampf mit seiner Erinnerung kaum zu ertragen ist. Zum Reden vor laufender Kamera gebracht hat den Politikprofessor der Franzose Claude Lanzmann, der für seinen Dokumentarfilm „Shoah“ elf Jahre lang Interviews mit Zeitzeugen des Holocaust führte. Der gebürtige Pole und Katholik Karski erzählt vom Warschauer Getto und vom Todeslager Izbica bei Lublin. Er war aus freien Stücken eingeschleust worden, um der Welt aus eigener Anschauung berichten zu können, wie ein ganzes Volk vernichtet wird. Von 1945 bis zu den Filmaufnahmen hatte Karski eisern geschwiegen.
Kein Wort verloren hatte er jahrzehntelang über seine Tätigkeit als Kurier des polnischen Widerstands, der von 1939 an Informationen aus dem von den Deutschen überfallenen Polen trägt. Zunächst informiert er vor allem die polnische Exilregierung über die Lage in Polen. Wie eine „Grammofonplatte“, soll er einmal gesagt haben, wollte er Zeugnis ablegen und berichten, was ihm aufgetragen wurde. Später wird für ihn der Völkermord an den europäischen Juden, dessen Augenzeuge er 1942 geworden ist, zum alles überschattenden Thema. Er berichtet der britischen Regierung in London, er wird vom amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt empfangen. Karski: „Ich habe versucht, den Holocaust zu stoppen, doch leider ist mir dies nicht gelungen.“
„Vollkommen einmalig“
„Das Besondere an Jan Karski ist, dass sich ein polnischer Nicht-Jude in diesem Ausmaß zu dieser Zeit mit diesem Engagement dafür einsetzt, dass die Welt erfährt, was in den Konzentrationslagern, was in den Gettos los ist. Das ist vollkommen einmalig“, sagt der Historiker Wolfgang Benz. Der Professor lehrte bis vor wenigen Jahren an der TU Berlin und ist Experte in der Antisemitismus- und NS-Forschung. Benz sagt: „Karskis Berichte stehen auch dafür, dass die Alliierten den Krieg gegen Hitler nicht geführt haben, um die Juden zu befreien. Das hatte eindeutig keine Priorität. Das machte auch Karskis Resignation aus: dass man sehenden Auges nichts sehen wollte.“
Aber man sah und wusste: Denn 1944 erschien in den USA Karskis Buch „Story of a secret State“ (Die Geschichte eines geheimen Staats) – ein Bestseller. Karski schrieb über das Warschauer Getto im Sommer 1942: „Überall herrschte Hunger und Elend, es stank grässlich nach verwesenden Leichen, man hörte das jämmerliche Wimmern sterbender Kinder und die verzweifelten Schreie und das Keuchen eines Volkes im aussichtslosen Überlebenskampf.“ Und er schrieb: „Zwei Tage später besuchte ich das Getto erneut, um mir alles möglichst gut einzuprägen. Mit meinen beiden Begleitern lief ich erneut drei Stunden lang durch die Straßen dieser Hölle, um vor den führenden Vertretern der freien Staaten dieser Welt glaubhaft Zeugnis ablegen zu können. Ich sah ein Kind vor meinen Augen sterben, einen alten Mann im Todeskampf, jüdische Polizisten, die eine alte Frau zu Tode prügelten.“
Erst im Jahr 2011 erschien mit dem Titel „Mein Bericht an die Welt – Geschichte eines Staates im Untergrund“ eine deutsche Übersetzung. Eine schwierige Materie, zumal das Buch im Spiegel seiner Zeit zu lesen ist – mitten im Zweiten Weltkrieg. Dennoch: „Es gab richtiggehende Hymnen auf dieses Buch“, sagt Andreas Schäfler, Sprecher des Verlags Antje Kunstmann, der das Buch veröffentlichte. Das Motiv: „Wir fanden das sehr, sehr wichtig. Wir wollten erst gar nicht glauben, dass sein Buch noch nie auf Deutsch erschienen ist und haben das dann gewagt.“ 10 000 Exemplare wurden verkauft. Vor wenigen Wochen ist ein weiteres Buch erschienen: „Das Leben des Jan Karski – Kurier der Erinnerung“ von Marta Kijowska; eine Biografie. „Jan Karski hat immer sehr viel Mut und Integrität bewiesen und dabei ein faszinierendes, reiches Leben geführt. Davon handelt dieses Buch“, schreibt die Journalistin. Sie hat Daten, Fakten und Erinnerungen von Zeitzeugen zusammengetragen, von Karskis Kindheit bis zu seinem Tod.
Danach wurde Karski 1914 in Lodz geboren, bis heute scheint nicht klar, ob am 24. April oder am 24. Juni. Der Vater stirbt früh, die Mutter erzieht ihn, seine vier Brüder und seine Schwester streng katholisch. Die Geschwister wachsen mit jüdischen Nachbarskindern und Schulfreunden auf. In dem Gymnasium, das Karski besucht, werden humanistische Werte und moralische Grundsätze vermittelt: „Freiheit des Denkens und des Glaubens, gesellschaftliche Toleranz, Patriotismus, soziales Engagement“, so die Biografin.
Bester seines Jahrgangs
Kijowska beschreibt Karski als „ein Sonnenkind und Wunderknaben“. Er ist schnell im Denken, belesen und beliebt, tiefgründig und zuvorkommend, voller Humor und stets Bester seines Jahrgangs. Er will Diplomat werden und beginnt 1931 in Lemberg ein Jurastudium. Er hat viele jüdische Kommilitonen und erlebt den in Polen verbreiteten Antisemitismus, der vor allem von den polnischen Nationaldemokraten geschürt wird. 1935 wird Karski Kadett, er glaubt, dass das seiner diplomatischen Karriere nicht schaden kann. Die beginnt er anschließend im polnischen Außenministerium. Er lernt in London Englisch, in Genf Französisch. 1939 muss er als Soldat einrücken, wenig später wird er Gefangener der Roten Armee, die von Osten her in Polen einmarschiert. Durch einen Gefangenenaustausch kehrt er nach Polen zurück – in das von Deutschen besetzte Warschau.
Durch seinen älteren Bruder wird Karski Mitglied des polnischen Untergrunds. In „Mein Bericht an die Welt“ schreibt er: „Es war kein besonderer Schritt und schon gar kein romantischer. Er verlangte keine Entscheidung von mir, kein plötzliches Aufwallen von Mut oder Abenteuerlust.“ Karski sollte später noch sehr viel Mut abverlangt werden – 1940 fällt er der Gestapo in die Hände. Er wird gefoltert, er will sich – als Katholik – das Leben nehmen, weil er befürchtet, der Qual nicht standzuhalten und andere zu verraten. Rechtzeitig kann er befreit werden; und er kehrt trotz allem zu einer weiteren Mission nach Polen zurück.
Das Kriegsende erlebt Karski in den USA. Anfang der 50er-Jahre wird er US-Bürger. Nachdem Karski sein Schweigen gebrochen hat, hält er Vortrag über Vortrag. Er wird nach Polen und Israel eingeladen, 83-jährig besucht er auch Deutschland. Karski, der Vergessenheit entrissen, wird mit Preisen überhäuft. 1982 wird ihm in Yad Vashem der Titel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen. 1994 wird er Ehrenbürger des Staates Israel.
Karski stirbt am 13. Juli 2000. Am Nachmittag zuvor spielt er noch Schach. Dass seine Mission die Mächtigen der Welt nicht zum Handeln zwang, hat ihn nie losgelassen. 1981 sagte er: „Dann wurde ich Jude (. . .) Ich bin aber ein christlicher Jude. Ein praktizierender Katholik. Und obwohl ich kein Ketzer bin, glaube ich, dass die Menschheit die zweite Erbsünde begangen hat: durch erzwungenes Handeln oder Unterlassen, durch selbstauferlegte Unwissenheit oder Gefühllosigkeit, durch Egoismus, Feigheit oder aus kaltem Kalkül. Diese Sünde wird die Menschheit bis ans Ende ihrer Tage verfolgen. Sie verfolgt mich. Und ich will, dass es so bleibt.“
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