Entschleunigung auf einem Festival wie dem Hurricane? Wird eher selten nachgefragt, kann aber blendend funktionieren. Zumindest für den Teil der Besucher, der sich am Nachmittag des ersten richtigen Scheeßeler Festivaltags bei Cigarettes After Sex gut aufgehoben fühlt. Die Texaner spielen mit solcher Freude an der Langsamkeit, dass man sich fragen muss, ob sie bei der ominösen Zigarette hinterher nicht einzuschlummern und das Bett in Flammen zu setzen drohen.
Das allerdings würde ihre Farbchoreografie gehörig ins Wanken bringen. Dann die Herren in Schwarz spielen unter ausschließlich weißem Licht und weisen die Pressefotografen an, nur Schwarz-Weiß-Bilder von ihnen zu veröffentlichen.
Das ist mindestens genauso konsequent wie ihr Sound, der an sogenannte Dreampop- und Slowcore-Traditionen der 80er-Jahre anknüpft.
Große Klangflächen mit minimalen Modulationen wie im Ambient, eher Spannungsabfall als -aufbau, was wohl auch folgerichtig angesichts des Bandnamens ist. Das Gebot der Langsamkeit aber lässt sich zudem auf die Arbeitsweise der Amerikaner ausdehnen: Ein Album und einige Singles in immerhin elf Bandjahren lassen nicht auf Workaholics schließen. Alles will wohlüberlegt, gründlich verarbeitet und maßvoll dosiert sein. Langweilig ist das beileibe nicht, wohltuend und entspannend allemal.
Überhaupt ist der Auftakt zum diesjährigen Festival ungewohnt gemäßigt. Zum Start erst mal einen Poetry Slam im Zelt, dann das unausweichliche Hurricane Swim Team, die festivaleigene Kultband, bevor Frittenbude als Überraschungsgast zur Mittagsstunde aufspielt. Es gibt poppigere Töne von Acts wie Alice Merton, die offenbar auf Internationalität setzt. Jedenfalls spricht die gebürtige Frankfurterin konsequent englisch mit dem Publikum, musikalisch aber trifft sie den Grat zwischen arg glattem Mainstream und ein wenig zickiger Elektronik recht zielsicher.
Scheeßel-Veteran Bosse
Parkway Drive, Papa Roach und zuvor Enter Shikari ziehen dann deutlich das Tempo an, sie verarbeiten Metal- und Hardcore-Elemente in verschiedenen Härtegraden und Mischungsverhältnissen. Insbesondere Rou Reynolds, Sänger von Enter Shikari, setzt aber auch inhaltlich deutliche Akzente. Wenn eine britische Band sich mit den Worten „Wir sind Europäer“ vorstellt, dann muss man das schon als politisches Statement werten.
Und auch seine Ansage, die Menschheit feiere quasi ihren Untergang, passt ganz gut zum Massenphänomen Hurricane, das sich in diesem Jahr einen bewusst grünen Anstrich gegeben hat. Die Bühne, auf der er das sagt, heißt allerdings nicht mehr Green Stage, sondern ist zur Forrest Stage mutiert. Nebenan ist die River Stage (früher Blue Stage), auf der es wider Erwarten ebenso trocken bleibt wie auf den beiden anderen, die nun Mountain oder Coast Stage heißen.
Das Podium am imaginären Fluss gehört nach Cigarettes After Sex dann mit Bosse einem Scheeßel-Veteran, der ins Abendprogramm überleitet. Auch bei seinem fünften Hurricane-Auftritt hat er seinen ersten, mittags um 12 Uhr, noch nicht vergessen. Überhaupt ignoriert er einfach mal die gigantischen Bühnenausmaße und Abstände und tut so, als ob der Acker sein Club wäre. Das durchgängige Auslassen von alledem, was man einem angehenden Showstar beim Casting mit dem auf dem Weg geben würde, ist sein Erfolgsrezept. Lange Jahre hat der Braunschweiger für diesen Traum gebuckelt, nun fährt er zum ersten Sonnenuntergang des Festivals den wohl verdienten Lohn ein – ausgelassen entspannt. Die Nacht gehört dann Bilderbuch, den Toten Hosen und Tame Impala.