Linda Zervakis: Das mache ich in der halben Stunde bevor ich auf den Schirm komme. Es gibt immer wieder Meldungen bei denen ich denke: Das kann doch nicht wahr sein! Man bekommt aber eine gewisse Routine und weiß, dass bestimmte Sachen einfach nicht auf den Schirm gehören. Die Nachricht steht im Mittelpunkt, nicht meine Meinung dazu. Wenn man sich das frühzeitig klar macht, geht das ganz gut. Wenn mir Sachen zu sehr ans Herz gehen, ist mein Trick, dass ich während der Beitrag läuft nicht hinschaue, mich schon für die nächste Meldung einlese und mich bewusst ablenke, damit ich meine Gefühle unter Kontrolle habe.
Wann war das zuletzt der Fall?Das passiert öfter, wenn Nachrichten aus Amerika kommen, die mich schockieren. Sehr traurig war ich auch bei den Bildern von der Explosion in Beirut. Das Leid von vielen unschuldigen Menschen zu sehen, das einfach von einer auf die andere Sekunde da ist, so etwas lässt mich nicht kalt. Und jetzt natürlich aktuell die Situation auf Lesbos.
„Etsikietsi“ heißt „so lala“. Wenn man an einem mittelmäßigen Tag gefragt wird, wie es einem geht, kann man super „Etsikietsi“ sagen, dann weiß jeder Bescheid. Man kann es aber auch mit „so und so“ übersetzen. Da komme ich ins Spiel: In dem Buch geht es um die Frage: Was bin ich eigentlich? Ich bin „Etsikietsi“ – ein bisschen so Deutsche, ein bisschen so Griechin.
Sie begeben sich in Ihrem Buch auf die Suche nach Ihren Wurzeln. Warum war Ihnen das wichtig?Meine Mutter meinte irgendwann: Du, ich habe übrigens auch ein Buch geschrieben und gab mir ein Tagebuch, in dem sie ihr Leben aufgeschrieben hat. Sie hat fast 20 Jahre lang 15 Stunden am Tag in einem Kiosk gestanden, da hatte man nicht groß Zeit, miteinander über früher zu reden. In dem Buch habe ich Sachen erfahren, die ich gar nicht vor Augen hatte. Im Grunde, habe ich eine Parallelgeschichte zu meiner Mutter. Es gibt Stränge in ihrer Geschichte, die auch in meinem Leben stattgefunden haben. Wenn man so will, lebe ich jetzt ihren Traum. Ich wollte meiner Mama mit dem Buch auch Danke sagen, für all das, was sie ertragen und durchgemacht hat. Ich wollte ihr ein Denkmal setzen.
Welche Parallelen haben Sie entdeckt?Meine Mutter hatte zwei große Gelegenheiten, etwas aus ihrem Leben zu machen, und diese Chancen wurden ihr verwehrt. Einmal hatte sie die Chance, auf die weiterführende Schule zu gehen, musste dann aber ihrem Bruder Platz machen. Dann hatte sie die Möglichkeit, bei einem Film mitzumachen, weil ein Schauspiellehrer von ihrem Talent überzeugt war. Ihr Vater fragte nur: Was soll denn das Dorf denken? Schauspieler war kein anerkannter Beruf. Auch ich konnte viele Sachen nicht machen. Ich konnte nach der Schule nicht ins Ausland. Ich wollte auch studieren, konnte meine Mama und meinen jüngeren Bruder aber nicht mit dem Kiosk alleine lassen. Auch ich musste für das Wohl der Familie Einschränkungen in meinem Leben akzeptieren und trotzdem gucken, dass ich weiterkomme. Ich habe es am Ende geschafft, aber auch erst, als der Kiosk weg war.
Was hat Ihre Mutter zu ihren Plänen, ein Buch über Ihre ganz persönliche Familiengeschichte zu schreiben, gesagt? Sie spielt immerhin eine zentrale Rolle darin.Sie hat sich total gefreut und war ein bisschen beschämt, weil so viel über sie in dem Buch steht. Das Buch soll auch klar machen, was sie für ein Leben hatte, ein Leben, das stellvertretend für ganz viele Gastarbeiter und ihre Kinder steht, aber auch auf die heutigen Flüchtlinge übertragen werden kann. Ihre Geschichte ist eine wiederkehrende Geschichte.
Es ist vor allem ein Anhängsel. Als ich es das erste Mal gelesen habe, habe ich mich gefragt, wen die Zeitungen denn meinen, bis mir einfiel: Stimmt, ich habe ja einen Migrationshintergrund! Davor war das im Job nie ein Thema. Ich war immer Linda. Ich habe mich gewundert, dass der Migrationshintergrund plötzlich relevant ist. Man hätte ja genauso gut sagen können, Linda Zervakis ist die neue „Tagesschau“-Sprecherin. Punkt. Ein bisschen hat das für mich immer den Nachklang, als wolle man sagen: Hören Sie mal, sie spricht wirklich akzentfreies Deutsch, ist das nicht toll?
In Ihrem Podcast „Gute Deutsche“ sprechen Sie mit Gästen, die ihre Wurzeln auch in einem anderen Land als Deutschland haben. Geht es da genau um solche Erfahrungen? Um ständige Fragen nach der Herkunft? Um das sperrige Wort Migrationshintergrund?Ganz genau. Mir ist durch dieses Anhängsel „Migrationshintergrund“ irgendwann die Idee zum Podcast gekommen. Das Thema trägt immer eine Schwere mit sich. Wenn wir zum Beispiel über Syrien sprechen, haben wir direkt Kriegsbilder vor Augen. Ich wollte da leichter herangehen, und die Vorzüge dieser anderen Wurzeln meiner Gäste in den Vordergrund stellen. Zum Beispiel jemanden aus Syrien erzählen lassen, was er oder sie mit dem Land verbindet – bestimmte Düfte, bestimmte Gerichte, Gastfreundschaft. Viele werden immer wieder gefragt, wo sie herkommen. Einige, die ich gefragt habe, finden das okay. Viele stören sich aber auch daran.
Das heißt, die Erfahrungen und der Umgang mit dem Thema sind ganz unterschiedlich?Ja. Mich stört es zum Beispiel überhaupt nicht. Als ich groß geworden bin, war es noch normal, dass gefragt wird. Aber ich habe mich unter anderem mit Moderatorin, Djane und Musikjournalistin Salwa Houmsi unterhalten. Sie ist halb Syrerin. Sie sagt, dass sie von den Fragen total angenervt ist. Das scheint auch ein Generationsproblem zu sein. Gerade Menschen der jüngeren Generation haben keine Lust, stigmatisiert zu werden, nur weil sie anders heißen. Sie wollen, dass man sich mit ihnen als Mensch auseinandersetzt.
Noch einmal zurück zu ihrem Buch. Ab Oktober gehen Sie damit auf Lesetour. Sie sind es zwar gewohnt vor Menschen zu sprechen, aber ist es noch mal etwas anderes, wenn man sein Publikum auch sieht?Absolut! Weil ich ja auch direkte Reaktionen bekomme. Abends um 20 Uhr stelle ich mir nie vor, wie viele Millionen Menschen vor dem Fernseher sitzen, weil mir das auch Angst macht. Wenn Menschen direkt vor einem sitzen, sieht man, wenn sie nicht lachen und kann nur hoffen, dass es beim nächsten Witz klappt. Aber der Austausch ist schön. Auf meiner Lesetour zum ersten Buch haben mir Leute zum Beispiel gesagt, dass ich in den Nachrichten immer so streng rüberkomme und sie mich nun noch einmal komplett anders kennenlernen konnten.
Na klar! Auch abends noch bei den 20-Uhr-Nachrichten, umgeben von Roboterkameras im Fernsehstudio. Beides ist immer wieder aufregend.
Das Gespräch führte Alexandra Knief.
Linda Zervakis wurde 1975 in Hamburg geboren. Ihre Eltern stammen aus Griechenland. Seit 2013 spricht sie die ARD-Tagesschau um 20 Uhr. „Die Königin der bunten Tüte“ hieß ihr erstes Buch, das davon handelt, wie ihre Eltern einst als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Mit „Etsikietsi“ ist gerade ihr zweites Buch erschienen.
Weitere Informationen
Linda Zervakis: Etsikietsi – Auf der Suche nach meinen Wurzeln. Rowohlt, Hamburg. 224 Seiten, 16 €. Am 14. Januar 2021 macht Zervakis im Rahmen einer Lesetour zu ihrem Buch auch im Bremer Schlachthof Halt.