Im Wintersemester sind an der Uni Bremen rund 1000
Senioren eingeschrieben. Sie leiden nicht unter Prüfungsstress, betrachten das Studieren als Genuss und das Lernen als Bereicherung für Geist und Seele. Die ältesten Seniorstudenten sind über 80 – aber eigentlich spielt das
Alter überhaupt keine Rolle.
Der Schal, zusammengefaltet auf dem Tisch, darauf ordentlich drapiert die Strickmütze. Studentin Helga Christiansen ist vorbereitet. Ein Block liegt vor ihr und der Kugelschreiber. Der Professor ist gerade hereingekommen. Christoph Auffahrt heißt er. Ein Prof. Dr. Dr., ein Theologe und Religionswissenschaftler. Das Thema der Vorlesung lautet: Religionsgeschichte der Spätantike. Das klingt staubig. Heute, bei der letzten Vorlesung vor der Semesterpause gibt es viel Geplauder und Geraschel im Hörsaal, der eher ein Hörraum ist. Einige Stühle sind leer. So mancher hat sich schon in die Semesterferien verabschiedet.
Der Raum 2040 liegt im zweiten Stock des Seminar- und Forschungsverfügungsgebäudes, kurz SFG. Blanke Betonverschalung, die Holzvertäfelung an den Wänden dient der Schalldämmung, unter der Decke hängen dicke weiße Lüftungsrohre und grelle Neonröhren. Laut brummt die Lüftung, wie ein großer Föhn klingt das, nur tiefer. Der Professor war spät dran. Die Studentinnen und Studenten sitzen schon auf ihren Plätzen. Immer zwei an einem Tisch. Viele haben graue Haare, oder weiße. Fast alle tragen eine Brille auf der Nase. Die Vorlesung wird von jungen Erwachsenen und auch von Senioren besucht. Die sitzen Seite an Seite, diskutieren miteinander, nehmen sich hin und an, Jung und Alt an einem Tisch. Helga Christiansen ist eine von ihnen. Sie ist 75 Jahre alt.
Seniorenprogramm seit 25 Jahren
Etwa 1000 Seniorstudenten sind im Wintersemester an der Uni Bremen eingeschrieben. Im Sommer sind es erfahrungsgemäß weniger. Sie zahlen einen Obolus von 110 Euro pro Semester. Der Betrag beinhaltet den freien Zugang zur Bibliothek und vergünstigtes Mensaessen. Seit 25 Jahren gibt es das Programm mittlerweile. Angeboten werden nicht nur Vorlesungen und Seminare im Sommer- und Wintersemester, sondern auch Studienreisen mit Dozenten und spezielle Veranstaltungen nur für Senioren. Ob und wie viele ein Dozent in seiner Vorlesung aufnimmt, entscheidet er selber. Hauptsache, es ist genug Platz für die Jungen da. Die Zahlen schwanken also zwischen drei und 100 Senioren. Eine Altersbegrenzung gibt es nicht. Manche Studenten sind über 80.
Argumente, sich als Rentner einzuschreiben, gibt es viele. Frauen etwa können nun nachholen, was früher nicht möglich war. Weil man ihnen zu Zeiten des Wirtschaftswunders nicht erlaubt hat zu studieren, wie es bei Helga Christiansen der Fall war. Oder weil sie ihren Beruf aufgegeben haben, um die Kinder großzuziehen. Für viele ist es ein Genuss, etwas lernen zu können, ohne den Prüfungsstress zu haben. Sich gezielt in eine Sache zu vertiefen, ohne viele Scheine machen zu müssen. Einfach zur Uni zu gehen, weil es bereichert und Spaß macht. Weil man dort neue Bekanntschaften schließt, und weil es lebendig und rege hält und man beweglich bleibt, nicht nur im Kopf sondern auch körperlich.
Professor Auffahrt spricht über den Islam als spätantike Religion – erklärt die Zusammenhänge des muslimischen, jüdischen und christlichen Glaubens. Er hat Bilder von Jerusalem mitgebracht und wirft sie an die Wand. Und plötzlich wird die verstaubte Geschichte lebendig. Da werden Wechselwirkungen deutlich zwischen den Religionen, anhand einer Stadt, in der alles zusammenfloss und noch immer fließt. Geschichte, die dort noch heute erlebbar ist. Tempelberg, Felsendom, Himmelfahrtskapelle. Auffahrt erzählt kurzweilig die Geschichte der nächtlichen Ausfahrt Mohammeds und seiner Leiter, auf der der Prophet Sprosse für Sprosse bis zum siebten Himmel aufsteigt und auf dem Weg die anderen Propheten trifft.
Nur einer nickt ein
Durch die breiten Fensterfronten des Raums 2040 könnte man auf eine Brachfläche in Richtung Autobahnzubringer blicken. Maulwürfe haben dort die Erde hochgebuddelt und auf das nasse Wintergras gehäuft. Aber es schaut niemand aus dem Fenster. Alle hören zu. Jung und Alt. Jemand schnäuzt in ein Stofftaschentuch. Nur einer, in Reihe drei, ist eingenickt.
Damals, als 16-Jährige, wollte Helga Christiansen Archäologie studieren. Der Vater hat es nicht erlaubt und die Heranwachsende stattdessen zur Handelsschule geschickt. Sie arbeitete als Assistentin im Sekretariat beim Tabakwarenhersteller Martin Brinkmann. Die Zigaretten hat sie ihrem Vater geschenkt. Sie rauchte ja nicht. Irgendwann, da war sie 34, hat ein italienischer Maler ihre Wände tapeziert. Der hat ihr einen Floh ins Ohr gesetzt. „Man muss immer zwei Berufe haben“, war seine Überzeugung.
Helga Christiansen leuchtete das ein. Und so hat sie in ihrem Leben zwei Berufe gelernt. Bei der Johanniter-Unfallhilfe hat sie gearbeitet, ihre zwei Kinder selbstbestimmt großgezogen, allein. „Ich habe immer bei den Hausaufgaben geholfen und wusste dadurch viel“, erinnert sich die Bremerin. Ihr Wissensdurst war schließlich größer als die Zweifel. Als Helga Christiansen ihr Abitur machte, war sie 52. Sie schrieb sich an der Uni Bremen ein. Ganz regulär. Ihre erste Vorlesung bei Professor Hans G. Kippenberg handelte von den Unterschieden zwischen Religionswissenschaft und Theologie. Bis heute fasziniert sie dieses Thema. Mit Anfang 60 ist sie aber aus dem normalen Studium ausgestiegen – „wozu einen Abschluss machen?“ – und wechselte stattdessen zur Seniorenuni.
Dort lernte sie auch Helmut Krause kennen. Der 69-Jährige ist seit etwa einem Dreivierteljahr Sprecher der Vertretung für Seniorstudenten, kurz VdS. Der Rentner, der einst im Bankwesen tätig war, ist genauso interessiert an Geschichte wie Christiansen. Als Sohn eines Soldaten ist er viel in Deutschland herumgekommen. Sein Interesse für Geschichtliches rührt vielleicht daher, dass er so viele Landschaften und unterschiedliche Menschen kennengelernt hat. Krauses Frau, eine ehemalige Bibliothekarin, besucht indes lieber Literatur-Vorlesungen.
Das Tuscheln der Generationen
1988 war Krause in Jerusalem. Er kennt all die Orte, die Professor Auffahrt an die Wand wirft. Er weiß, wo in Jerusalem die Sonne untergeht und macht sich in Gedanken noch einmal auf die Reise. Vorhin, als der Professor Kopien mit Texten verteilte, war Krause schon vorbereitet. Er hat sich die Seiten zuvor größer kopiert. Die kleine Schrift zu lesen, ist zu anstrengend. Krauses Sitznachbar hat Müsliriegel mitgebracht, zur Stärkung. Am Ende der Reihe tuscheln ein alter und ein junger Student angeregt miteinander. Sie haben sich gerade erst kennengelernt. Helga Christiansens Platz ist ein paar Reihen weiter vorn, auch neben ihr sitzt eine neue Bekannte.
Ihr Sohn Gunnar findet es gut, dass sie immer noch zur Uni geht. Der 42-Jährige hat in Bremen Soziologie studiert und zum Teil dieselben Vorlesungen besucht wie seine Mutter. Natürlich wurde im Hause Christiansen über die Vorlesungen diskutiert. Streitgespräche führen die beiden noch heute. Dass jetzt die vorlesungsfreie Zeit beginnt, macht Helga Christiansen nichts aus. Ab übernächsten Montag will sie eine Vortragsreihe zur Kulturgeschichte der Gärten besuchen. „Irdische Paradiese“ heißt die Reihe. Eines davon hat sie in Raum 2040 ja schon gefunden.
Wer sich über das Seniorenstudium informieren möchte, kann unter der Telefonnummer 0421/218-61616 (Anrufbeantworter) das Programmheft für das Sommersemester anfordern. Darin enthalten sind etwa 200 Veranstaltungen. Das Heft liegt ab Anfang März vor. Das Sommersemester beginnt am 22. April. In der vorlesungsfreien Zeit gibt es für alle ein Vortragsprogramm. Es beginnt am Montag, 17. Februar. Vortragsprogramm und weitere Informationen unter www.uni-bremen.de/weiterbildung
Man lernt nie aus
Seit Jahren schon bietet die Universität ein Seniorenprogramm an. Helga Christiansen nutzt es rege.
Reportage
Jetzt sichern: Wir schenken Ihnen 1 Monat WK+!