Wildeshausen. Es ist 80 Jahre her, dass in der Nacht zum 9. November 1938 auf Geheiß der nationalsozialistischen Führungsriege in ganz Deutschland Läden und Wohnungen jüdischer Mitbürger geplündert und zerstört, Synagogen in Brand gesetzt und Juden ermordet wurden. Der Tag ging als Reichspogromnacht in die Geschichtsbücher ein. Damit dies nicht in Vergessenheit gerät, organisiert der Arbeitskreis für Demokratie und Toleranz des Präventionsrates Wildeshausen auch in diesem Jahr wieder die Veranstaltungsreihe „Gelebte Erinnerung in Wildeshausen“. Drei Veranstaltungen sind im November geplant. Für Bürgermeister Jens Kuraschinksi ist das genau die richtige Zeit. „Die dunkle Jahreszeit beginnt. Das ist eine Zeit, in der man zur Ruhe kommt und sich Gedanken macht“, sagt er.
Dass die Reichspogromnacht auch ein Teil der Wildeshauser Geschichte ist, soll bei einem Erinnerungsgang deutlich werden. Dieser beginnt am Freitag, 9. November, um 14.30 Uhr auf dem Marktplatz und führt an den Häusern vorbei, in denen jüdische Familien gewohnt haben. Zwölf Stolpersteine im Pflaster erinnern an die Familien und deren Schicksal. Schüler des Gymnasiums Wildeshausen bereiten im Religionsunterricht den Erinnerungsgang inhaltlich vor. „Die Schüler werden an jedem Stein die Biografien der Menschen erzählen und symbolisch eine Rose ablegen“, erklärt Majken Hjortskov, Sprecherin des Arbeitskreises für Demokratie und Toleranz.
Der Rundgang endet auf dem Marktplatz, wo ein Banner aufgehängt sein wird und Gedenkkerzen angezündet werden sollen. Im Anschluss soll es gegen 16 Uhr auf den jüdischen Friedhof gehen. Dorthin lädt der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen gemeinsam mit dem Arbeitskreis für Demokratie und Toleranz zu einer Zeit des Gedenkens ein. „Wir wollen die Leute sensibilisieren und verhindern, dass sich so etwas wiederholt“, erklärt Hjortskov. Zu dem Erinnerungsgang sind alle willkommen – jedes Alter, Geschlecht oder Religion. Ein Anmeldung ist nicht erforderlich.
Die Veranstaltungsreihe „Gelebte Erinnerung“ geht dann am Dienstag, 13. November, mit einer Lesung von Maria Anne Stommel und Heike Röhrs weiter. Im Trauzimmer des historischen Rathauses werden die beiden um 19 Uhr aus dem Tagebuch von Hélène Berr lesen. „Sie ist das französische Pendant zu Anne Frank“, erklärt Hjortskov. Berr entstammte einer alten jüdischen Familie, die sehr wohlhabend war und ihr ein unbeschwertes Heranwachsen ermöglichte. Als die Deutschen am 14. Juni 1940 Paris besetzten, hatte sich die damals 19-Jährige gerade verliebt. Ihm widmete sie ihr Tagebuch, das sie von April 1942 bis Februar 1944 – kurz vor ihrer Deportation nach Auschwitz – führte. Der Leser erfährt, wie sich Berrs Leben in Paris schleichend verändert. Sie hatte beschlossen, nicht zu fliehen. Die Studentin kümmerte sich gemeinsam mit ihrer Schwester um die Kinder deportierter Juden. Mit ihren Tagebüchern wollte sie Zeugnis ablegen, damit nicht in Vergessenheit gerät, was sich vor ihren Augen abspielte: Massendeportationen, die Zustände im früheren Pariser Vergnügungstempel, der zum Gefängnis für mindestens 12 000 Juden geworden war, und viele weitere Gräueltaten. Der Eintritt zu der Lesung, die Enno Popken am Saxofon begleitet, kostet fünf Euro.
Wie aus dem Nichts
Den Abschluss der diesjährigen Veranstaltungreihe bildet der Kinofilm „Aus dem Nichts“ von Fatih Akin, der am Mittwoch, 28. November, um 20 Uhr im Lili-Service-Kino gezeigt wird. „Der Film passt sehr gut. Denn darin geht es um Intoleranz und Rassismus“, sagt Hjortskov. In dem Werk verändert sich das Leben von Katja (Diane Kruger) aus dem Nichts, als sie ihre Familie bei einem rechtsextrem motivierten Bombenanschlag verliert und die Rache selbst in die Hand nimmt. Für die Recherche zu seinem Film hatte Akin mehrere Gerichtsverhandlungen im NSU-Prozess beobachtet. „Der Skandal bestand nicht darin, dass deutsche Neonazis zehn Menschen getötet hatten. Der eigentliche Skandal bestand darin, dass die deutsche Polizei, Gesellschaft und die Medien alle überzeugt waren, dass die Täter Türken oder Kurden sein müssten, dass da irgendeine Mafia dahinter steckt“, sagte Akin zur Premiere in Cannes. Diese Frustration sei für ihn wie eine Initialzündung gewesen. Der Arbeitskreis für Demokratie und Toleranz hofft, mit dem Film verschiedene Altergruppen, vor allem aber Jüngere zu erreichen. „Gerade Jugendliche sind uns wichtig. Denn in diesem Alter lässt man sich leicht in falsche Bahnen lenken“, meint Hjortskov.