Lilienthal. Rahman Halimi und Abdul Karim Akdah sitzen auf einer Holzbank draußen im Hof des Alten Amtsgerichts. Vor den beiden 15-Jährigen liegt ein weißer Zettel mit einem Lückentext. Abwechselnd sprechen die Schüler Sätze, in denen sie Wörter wie „falls“, „damit“ oder „als“ einbauen. Vor ihnen sitzt Sigrid Göben-Gründken und korrigiert oder bestätigt. Sie fragt und bekommt Antworten. Die Jugendlichen wirken hochkonzentriert und trotzdem entspannt. Die Jungen lächeln immer wieder. Sie freuen sich und sind auch ein bisschen stolz.
Die drei treffen sich dienstags zu einer Art Nachhilfe im Haus der Kommunalen Jugendarbeit, dem Alten Amtsgericht in Lilienthal. Ihre Lebenswege könnten nicht unterschiedlicher sein: Sigrid Göben-Gründken ist Akademikerin und seit vielen Jahren Lehrerin. Sie arbeitet als stellvertretende Schulleiterin an der IGS Lilienthal. Rahman Halimi kommt wie Abdul Karim Akdah aus einer anderen Welt. Die jungen Männer mit den dunklen Haaren stammen aus Syrien und Afghanistan. Sie flohen vor Krieg und Verfolgung.
Lateinische Schrift neu lernen
Jetzt besuchen sie die 9. Klasse der IGS Lilienthal und bekommen Extra-Stunden in Deutsch. Kinder aus Flüchtlingsfamilien haben Nachhilfe manchmal nötig, da ihre Sprachkenntnisse oft noch nicht ausreichen für den Unterricht. Sie kamen bestenfalls mit ein paar Brocken Deutsch an, die sie in den ersten Unterkünften ganz schnell gelernt haben. Jugendliche aus dem arabischen Raum müssen auch noch die lateinische Schrift lernen. Wie anderswo in Deutschland lernen sie in der IGS zunächst in Klassen, in denen nur junge Flüchtlinge unterrichtet werden und bekommen zusätzliche Förderung, um später in den Regelunterricht oder in die Ausbildung zu gehen.
Ein weiterer Baustein an der IGS ist nun die Nachhilfe, die Jugendliche wie Rahman Halimi und Abdul Karim Akdah fit machen soll für den Schulabschluss. Die Förderstunde gehört zu den Wahlpflichtkursen. Dabei kooperiert die Schule erneut eng mit dem Alten Amtsgericht an der Klosterstraße. Das Besondere: Die Nachhilfe wird in die Jugendeinrichtung verlegt, von der sich die Organisatoren eine gute Lernatmosphäre versprechen. Das Angebot ist auf die einzelnen Jugendlichen abgestimmt und für die Teenager verbindlich. Die Sprachwerkstatt, Teil des Ganztagsbetriebs der IGS, ist mit den Abfahrtszeiten der Schulbusse abgestimmt. Die Nachhilfe ist ein Angebot im Rahmen des Gesamtkonzepts „Geko“ für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Lilienthal.
Sigrid Göben-Gründken arbeitet draußen bei hochsommerlichen Temperaturen am Wortschatz ihrer beiden Zöglinge Rahman Halimi und Abdul Karim Akdah. Abdul füllt mit einem grünen Kugelschreiber die Lücken im Text. Die Jungen kennen die Pädagogin von der Schule. Doch im Alten Amtsgericht engagiert sich die Lehrerin ehrenamtlich. Sie gehört zu den Bildungsbegleitern der Neunt- und Zehntklässler. Ihr ist wichtig, dass die Jugendlichen einen Abschluss bekommen, sagt sie.
Rahman Halimi hat auch schon eine Idee, was er werden möchte: „Vielleicht Automechaniker“, sagt der 15-Jährige, der mit seinem Cousin in einer Lilienthaler Familie lebt. Die Sprachwerkstatt finde er zum Lernen gut, erzählt er.
Im Foyer des Alten Amtsgericht sitzt zur selben Zeit Viola Bürgy der 17-jährigen Fern Thamthai gegenüber. Der jungen Frau fällt es noch etwas schwer, den Lückentext zu lesen, den die Leiterin der kommunalen Jugendarbeit der IGS-Schülerin aus Thailand ihr gegeben hat. Ihre Mentorin Bürgy spricht langsam, damit der Teenager alles verstehen kann. Aus einem Raum weiter dringt eine Männerstimme. Der pensionierte Lehrer Carsten Böning geht mit Maryam Hasani und zwei weiteren Neuntklässlerinnen eine Deutsch-Hausaufgabe durch. Auf dem Stundenplan steht Text-Analyse. Gar nicht so leicht, aber die drei Teenager zeigen sich lernbegierig und zugewandt. Die 15-jährige Maryam stammt aus Afghanistan und lebt seit eineinhalb Jahren mit ihrem jüngeren Bruder im SOS-Kinderdorf Worpswede. Ihre Eltern seien gestorben, sagt sie. Sie möchte Erzieherin werden. Die Förderstunde im Alten Amtsgericht nimmt sie gern an. „Wenn ich Hilfe brauche, kriege ich sie hier.“
Hilfe bekommen die IGS-Schüler auch von Pädagogin Doris Ahmed und dem pensionierten Kinderarzt Christian Weymann. Es dürften aber ruhig noch mehr Helfer sein, betont Viola Bürgy. Wer Interesse hat, sich ehrenamtlich als Bildungsbetreuer dienstags von 13 bis zirka 15 Uhr zu engagieren, sollte sich an Yvonne Ahmed unter 0 42 98 / 92 91 65, 01 51 / 40 26 95 59 oder per E-Mail an yvonne.ahmed@lilienthal.de wenden oder an Viola Bürgy unter der Nummer 0 42 98 / 92 91 80 oder per E-Mail an viola.buergy@lilienthal.de.
Die nächsten beiden Dienstag-Termine fallen jedoch für die meisten der Nachhilfe-Schüler aus. Sie machen dann ein Praktikum. „Alle haben einen Platz gefunden, das ist bemerkenswert“, freut sich Lehrerin Sigrid Göben-Gründken. Das Praktikum sei ein Einstieg ins Berufsleben, es öffne weitere Türen. „Und wir machen sie fit für den Arbeitsmarkt, damit sie eine Chance haben – aber die haben sie“, ist sich die stellvertretende Schulleiterin der Integrierten Gesamtschule Lilienthal sicher.