Ritterhude. „Die Eintagsfliege ist mein Feind“, sagt Reinhard Egge: Er begreift seine Arbeit als einen Dauerlauf, an dem er möglichst viele Menschen beteiligen möchte. Der Ritterhuder ist Sprecher der Regionalgruppe im bundesweit tätigen Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Die Organisation hat ihren Auftrag und ihr Ziel zum Vereinsnamen erhoben. Und der kalendarische Zufall will es, dass 2018 ein Jahr ist, in dem es für den Verein allem Anschein nach ganz besonders viel zu tun gibt.
Nicht nur für den Verein, wie Egge betont. Er wünsche sich ein Erinnern, das keine lästige Pflichtübung und keine Eintagsfliege ist. Sondern eines, das gerade auch die jüngere Generation anspricht und angeht, konkret und vor Ort. Etwa so, wie es eine Zeit lang die Ritterhuder Schüler vorgemacht haben, die Klassenfahrten in die Volksbund-Bildungsstätte Golm unternommen haben; oder wie jene Schüler, die sich zuletzt mit einer Denk-mal-nach-Aktion am Volkstrauertag beteiligt hatten. Bei vielen Gedenkfeiern 2017 stand auf der Kranzschleife „Erinnern – Lernen – Handeln“.
Darum hatte Egge bei der Ratssitzung Mitte Dezember auch nachgefragt, was denn der Gemeinderat insbesondere an den Gedenktagen im November 2018 zu tun gedenke. Der Ratsvorsitzende Gernot Jesgarzewski gab den Ball seinerzeit zunächst an den kommunalen Arbeitskreis Erinnerungskultur weiter. Er gehe davon aus, dass dort zuerst über Egges Fragen diskutiert werde, so Jesgarzewski.
Egge ist damit nur zum Teil zufrieden. Immerhin bezeichne sich Ritterhude als „europäische Gemeinde mit Zukunft“. Am 9. und auch am 18. November jähren sich „elementare Ereignisse, die auf Orts- und Welt-Kriegs-Geschichte verweisen“, so Egge in seinem Thesenpapier. Er spricht von Herausforderungen, denen nicht ausgewichen werden könne. Getreu dem Bonmot „Weihnachten kommt immer so plötzlich“ möchte der Ritterhuder frühzeitig und möglichst auch öffentlich Denkanstöße geben, auf dass historische Dimensionen und Zusammenhänge deutlich werden.
Seit 30 Jahren werden in Ritterhude regelmäßig entsprechende Zeichen gesetzt; die Initiative hatten unter anderem Bürgermeister Arnold Schölzel und Gerhard Ruhnke (Kirchengemeinde) ergriffen. Zum 9. November 1988 ließen sie zwei Gedenksteine errichten. Der am Rathaus erinnert seither an die Opfer des Faschismus; ihrer wird am 27. Januar gedacht. Der Stein an der St.-Johannis-Kirche erinnert an die Pogromnacht vom 9. November 1938. „Vergesst es nie und seid wachsam“, steht darauf.
An die Nachbarn denken
„Was machen wir damit, 80 Jahre danach, am 9. November 2018?“, fragt nun Egge und schlägt den Bogen weiter. Für ihn ergibt sich eine besondere Verantwortung auch aus dem 9. November 1918, dem Tag der Ausrufung der Weimarer Republik; und diese endet nicht mit dem 9. November 1989, dem Fall der Berliner Mauer. Ganz im Gegenteil: Die Partnerschaft Ritterhudes mit Bad Belzig solle miteinbezogen werden, denn: „Zukunft ist ohne den gesamtdeutschen Blick nicht denkbar“.
Dazu kommt der 11. November 1918, der das Ende des Ersten Weltkriegs markiert; ein Datum, das auch für Deutschlands Nachbarn bis heute besonders bedeutsam ist: Die Franzosen haben das Gedenken an den Waffenstillstand von Compiegne zum Feiertag erhoben. In Polen feiert man in diesem Jahr 100 Jahre Wiedergründung als Zweite Polnische Republik. Und in beiden Ländern habe Ritterhude ja auch Partnerkommunen, sagt Egge: Sztum und Val de Reuil.
Nicht zuletzt fällt der Volkstrauertag in diesem Jahr auf den 18. November – am 18. November 1941 wurden zahlreiche Bremer, Ritterhuder und Stader Juden nach Minsk deportiert. Eine Zehnjährige habe sich im November 2017 einen der sogenannten Stolpersteine in Alt-Ritterhude näher angesehen und festgestellt, wo die betreffende Person gestorben sei, erzählt Egge: „Sie hat gefragt ,Warum Minsk?' Das ist die Frage, der wir uns zu stellen haben.“ Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier formulierte es vor wenigen Wochen so: „Die Verantwortung vor unserer Geschichte kennt keine Schlussstriche.“