Osterholz-Scharmbeck. Darauf hatte das Publikum lange gewartet: Endlich wieder ein gesellschaftliches Ereignis erleben, wenn auch mit gebührendem Abstand und mit Mund-Nase-Schutzmasken ausgerüstet. Vor dem alten Bauernhaus der Museumsanlage hatten Veranstalter Detlef Gödicke und die Mitglieder des Museumsvereins in großzügigem Abstand Bänke aufgestellt und hielten Stühle für diejenigen bereit, die vielleicht doch allein gekommen waren, um zum ersten Mal seit Monaten wieder ein Live-Konzert in Osterholz-Scharmbeck zu erleben. „Sonst hätten wir in der Pause wie üblich auch Getränke und Snacks gereicht – diesmal haben wir die Besucher gebeten, selbst Erfrischungen mitzubringen; fast ein wenig wie bei 'Sommer in Lesmona'“, meint Debbie Gödicke.
Mit Ella Winkelmann hatte Detlef Gödicke genau die richtige Künstlerin für das erste Live-Konzert seit Beginn der Pandemie in die Museumsanlage eingeladen. Die in der ehemaligen DDR aufgewachsene und klassisch ausgebildete Pianistin munterte das Publikum mit vielen bekannten, etlichen ungewöhnlichen und – zauberhaft dazwischen gestreut – überraschenden Stücken aus DDR-Beständen auf. Da erfuhr „Heute hier, morgen dort“ von Hannes Wader die gekonnte Interpretation durch Winkelmanns Expertenhand. Ein anderes Mal nahm sie ihr Publikum mit auf die „Gedankenspaziergänge“, die ihrer eigenen Feder entstammten. Der „Sommernachtsball“ von Veronika Fischer verzauberte das Publikum ebenso wie das Präludium in C-Moll von Johann Sebastian Bach.
Musikalischer Bogen
Zwischendurch erzählte Winkelmann Geschichten aus ihrer Ausbildungszeit an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar, wo das Spielen moderner Stücke, etwa der Beatles, für die Studenten klassischer Musik streng verboten war. „Haben wir aber trotzdem gemacht“, verriet Winkelmann mit einem Zwinkern. Überhaupt erlebte das Publikum eine Künstlerin, die nicht gern eingefahrenen Wegen folgte oder sich Vorschriften machen ließ. „Bach habe ich gern auch mit Fußpedal gespielt – das war ein absolutes No-Go in Weimar“, verriet sie aufmüpfig. Dafür spielte Winkelmann anschließend gleich „Wonderful World“ von Louis Armstrong – in der Interpretation von Ella Winkelmann.
Auch in Osterholz-Scharmbeck eher selten gehörte Stücke wie „Wind trägt alle Worte fort“ von Franz Bartzsch nahmen des Publikums gefangen. „Jetzt kommt meine Ossie-Ecke“, kündigte Winkelmann an, und ließ ihre Finger leicht und geschmeidig über die Tasten eilen. Die DDR-Band „Lift“ verneigte sich mit ihrem Lied „Scherbenglas“ durch Ella Winkelmann vor dem Publikum, der „König der Welt“ von Karat verzauberte die Zuhörer, und alle 90 Besucher des Konzerts im Museum reisten gemeinsam mit Bolle zu Pfingsten nach Pankow. Der Nachmittag machte dem Publikum gewaltigen Spaß. Mit Käsehäppchen und Prosecco, Erdnussflipps, Cola und Wunschkonzert verging die Zeit im Nu.
„Könnten Sie mal 'Über den Wolken' von Reinhard Mey spielen?“ – Klar, Ella Winkelmann konnte. Und so wurde über die Wolken die Freiheit wohl grenzenlos, während irgendjemand Kaffee in der Luftaufsichtsbaracke kochte. Brahms Wiegenlied, „Der Mond ist aufgegangen“, oder „Weißt du, wie viel Sternlein stehen“ führten bei Ella Winkelmann unweigerlich zu Stefan Remmlers „Keine Sterne in Athen“. Ein musikalischer Bogen, wie ihn nur ein musikalischer Freigeist zu schlagen wagt.
Auch die Neue Deutsche Welle surfte Ella Winkelmann mit Bravour. „Kleine Taschenlampe, brenn“ wurde vom Publikum gern aufgenommen, und bei dem altbekannten „Marmor, Stein und Eisen bricht“ war bei vielen die letzte Hemmschwelle des Mitsingens gefallen. Die Turmuhr von St. Marien hatte längst geschlagen, aber noch wollte man sich nicht von diesem ersten wieder live erlebten Konzert im Museum verabschieden – zumal Ella Winkelmann sich in der Zugabe mit „Die Kleptomanin“ von Gisela May und einem Solo für elektrische Zahnbürste verabschiedete.