Landkreis Osterholz. Marcus Pindur ist ein Atlantiker und erklärter Fan des Atlantischen Bündnisses. Das war nicht immer so: 1982 hatte er den Kriegsdienst verweigert und den Nato-Doppelbeschluss strikt abgelehnt. Heute spricht der Hörfunkredakteur auf Einladung der Bundeswehr und erntet Applaus.
In seinem Wintervortrag in der Lucius-D.-Clay-Kaserne forderte Pindur, die deutsche Politik müsse mutiger und selbstbewusster werden. Eine Erhöhung des Wehretats auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts sei dabei unumgänglich. Bis 2024 sollen 1,5 Prozent erreicht sein, das sei ein bescheidenes Ziel. „Es geht dabei nicht um Aufrüstung, sondern um Ausrüstung“, betonte der Fachjournalist für Innere und Äußere Sicherheit.
Fehlende Schutzwesten und Winterkleidung; defekte Panzer, Hubschrauber, Flugzeuge seien ein Unding und würden von den Nachbarn und Bündnis-Partnern zunehmend kritisch wahrgenommen. Sie machten daran fest, „wie solidarisch wir sind“, sagte der Gastreferent vor mehr als 200 Zivilisten und Uniformierten im voll besetzten Hörsaal.
Deutschland sei der einzige Mitgliedsstaat im Verteidigungsbündnis, der noch immer nicht über das Nachfolgeflugzeug für die Tornado-Maschinen entschieden hat, die seit 45 Jahren im Dienst sind. Deutschland profitiere enorm von der liberalen Weltordnung, zu deren Erhalt es aber wenig beitrage. Barack Obama habe dafür in einem Interview 2014 den Begriff der Freerider gewählt. Trittbrettfahrer also, oder, wie Pindur es übersetzte, „Sicherheitsschnorrer.“
Frage der Dankbarkeit
Kooperation sei nicht die Regel, sondern die punktuelle Ausnahme. Schon 1963 habe John F. Kennedy geklagt, die Europäer täten zu wenig für die eigene Sicherheit. „Vergessen wir nicht: Wir verdanken Freiheit und Wohlstand einem Frieden in Europa, der seit mittlerweile 70 Jahren andauert.“ Eine so lange Zeitspanne sei einmalig in 1500 Jahren europäischer Geschichte, erklärte Pindur, der in Berlin und den USA studiert hat und von 2012 bis 2016 als Korrespondent in Washington arbeitete. Der 56-Jährige war in jungen Jahren Referent des damaligen Abgeordneten Ben Cardin (Democrats), der inzwischen Senator des Bundesstaates Maryland ist.
Pindur betonte, die USA erwarteten nicht erst seit Donald Trump, dass Deutschland eine weltpolitisch wichtigere Rolle spiele, die seiner Wirtschaftskraft entspreche. Amerika sei immer weniger bereit, die Lasten allein zu schultern. Doch bisher bürde die Bundesrepublik die konventionelle Abschreckung ihren Nachbarn und Partnern auf. Sie sei in den Augen der Alliierten nicht bereit, „Verantwortung wahrzunehmen und Macht auszuüben“; dazu gehöre auch, „Risiken einzugehen und Fehler zu machen“.
Das Gewicht dieser Verantwortung innerhalb Europas und der Nato ähnele heute durchaus der Rolle, welche die USA im Westen nach 1945 gespielt habe. Es habe nach dem Zweiten Weltkrieg unverkennbar Phasen gegeben, da sei es darum gegangen, Deutschland klein zu halten und einzubinden, räumte Pindur ein. Auch bei der Wiedervereinigung habe mancher Überheblichkeit und Großmannssucht der Deutschen befürchtet. „Es gibt da ein historisches Gedächtnis.“
Gerade wegen dieser geglückten Entwicklung weg vom Nazi-Deutschland werde man jedoch heute als allzu selbstbezogen und handlungsunfähig wahrgenommen, behauptete Pindur. Er hat in Neuerer Geschichte einen Doktortitel erworben und ist seit 2005 Redakteur beim Deutschlandradio. In seinem Garlstedter Vortrag zitierte er jetzt den früheren polnischen Außenminister Radosław Sikorski. Der habe 2011 gleichsam stellvertretend erklärt, er fürchte deutsche Untätigkeit mehr als deutsche Macht.
Da eine europäische Verteidigungsgemeinschaft 1954 an Frankreichs Souveränitätsinteressen gescheitert sei, sei die Nato aus europäischer Warte heute alternativlos und lebenswichtig. Mehr noch: Vor allem seit der Krim-Annexion und besonders für Polen und das Baltikum sei das Nordatlantik-Bündnis die Rückversicherung gegenüber Putins Russland, der einen „imperialen Phantomschmerz“ von verlorener Größe nähre. Für diese Osteuropäer seien die Sicherheitsgarantien der Nato letztlich sogar bedeutsamer als die wirtschaftliche Prosperität einer Europäischen Union, so der Vortragsgast. Die vier russischen Raketenbataillone, deren Technologie im August zum Ende des INF-Abrüstungsvertrags führte, seien schließlich im europäischen Teil Russlands stationiert und nicht in Asien.
Es seien strategisch schwierige Zeiten: In Europa fremdeln Populisten in Ungarn und Polen mit den Rechtsnormen der EU, Großbritannien verabschiede sich gerade, und Macrons Vorschlag einer Europaarmee sei unbeantwortet geblieben. „Außerdem müssen wir uns auf ein Eingreifen in Nordsyrien einstellen. Nicht im Alleingang natürlich, aber es ist in unserem ureigensten Interesse, dass wir da mit am Tisch sitzen.“ Die Region vor der Haustür Europas dürfe auch wegen der Flüchtlinge nicht Putin und Assad überlassen werden, da stimme er der Verteidigungsministerin zu.
„Wir waren alle sehr bequem“, schloss Marcus Pindur. Die Forderung nach höheren Wehretats sei lange Zeit bis tief in die CDU hinein nicht sehr populär gewesen, räumte er ein. Heute stimmten ihr hinter vorgehaltener Hand auch weite Teile der SPD und sogar Fachpolitiker der Linken zu, behauptete der Korrespondent. Es sei ratsam, wenn die Soldaten die sicherheitspolitische Diskussion vermehrt in die Öffentlichkeit trügen. „Es wird aber noch länger dauern, bis da was passiert.“