Ritterhude. Hinter der Ladentür von Riesstraße Nummer 62 hat die Zeit ein Zuhause gefunden. Während jenseits der Schwelle die digitale Technik lautlos auf dem Vormarsch ist, gehören die Räume von Michael Lühmann allein ihr. Dort darf sie ticken, schlagen und bimmeln. Dort werden ihre Gewichte schnarrend zurück in Position gekurbelt, werden Betrachter von den gleichmäßigen Bewegungen der Pendel hypnotisiert. Dort ist Zeit mehr als ein abstrakter Begriff. Dort lässt die Mechanik antiker Uhrwerke Sekunden und Stunden sichtbar, greifbar und hörbar werden. Für den Geschäftsinhaber, Uhrmacher Michael Lühmann, ein Genuss: „Ich höre immer wieder gern hin.“
Schon als Kind haben alte Dinge den gebürtigen Ritterhuder fasziniert. „Ich war gern auf Flohmärkten unterwegs“, erzählt er. Wofür war das? Wie funktioniert es? Solche Fragen finde er bis heute spannend. Jahre später kaufte er bei einem seiner Flohmarktbesuche eine alte, kaputte Wanduhr. „Ich wollte unbedingt verstehen, wie sie funktioniert, am liebsten wollte ich sie selbst wieder zum Laufen bringen“, erinnert er sich.
Dafür jemanden mit dem nötigen Wissen zu finden, sei gar nicht so einfach gewesen. Ein normaler Uhrmacher konnte ihm nicht weiterhelfen. Heutzutage stellten antike Uhren in der Ausbildung keinen Schwerpunkt mehr dar. „Um eine solche Uhr zu reparieren, muss man mit der Drehbank arbeiten, kleinste Teile bauen und löten können“, sagt der 50-Jährige. Das werde nicht mehr gelehrt. Nur in der Schweiz gebe es noch eine Ausbildung zum Antik-Uhrmacher.
Jede Uhr erzählt eine Geschichte
Auf seiner Suche nach einem solchen Fachmann stieß der Ritterhuder schließlich auf Henning Paulsen. „Er ist Dom-Uhrmacher-Meister in Bremen.“ Paulsen habe sich Zeit für ihn genommen. Die Chemie stimmte, und schließlich nahm Paulsen den wissbegierigen Ritterhuder zum Lehrling. Lühmann gab seinen bisherigen Beruf auf und pendelte zum Blockunterricht nach Hamburg. Den Rest lernte er in Bremen. „2000 habe ich bei Paulsen angefangen; nach bestandener Ausbildung blieb ich noch bei ihm und arbeitete vor allem in der Werkstatt; 2004 habe ich mich schließlich selbstständig gemacht.“
2017 zog er mit seinem Geschäft und der Werkstatt von der Riesstraße 23 ein paar Meter weiter in Haus Nummer 62. „Donnerstags und freitags ist geöffnet.“ An den übrigen drei Werktagen arbeite er hinten in der Werkstatt. Um bei seiner figelinschen Arbeit nicht gestört zu werden, bleibt der Laden dann geschlossen.
„Jede dieser alten Uhren ist anders“, erklärt Michael Lühmann. Dabei blickt er auf die vielen Uhren, die an seinen Wänden hängen und stehen. Ihr Ticken erfüllt den Raum. „Die meisten antiken Uhren sind um die Jahrhundertwende herum entstanden.“ Also um 1900. Durch die Industrialisierung konnten nicht nur mehr Uhren produziert werden. Immer mehr Menschen konnten sich auch eine leisten. Davor waren sie Adeligen, Gutsbesitzern, Leuten mit Geld vorbehalten und galten durchaus als Statussymbole.
„Jede Firma hat damals ihre eigene Konstruktion entwickelt, die ein bisschen von der der anderen abweicht“, sagt er. Wer solch eine Uhr reparieren will, muss die Mechanik verstehen. Er muss sich in den Hersteller des antiken Laufwerks hineinversetzen. „Wenn ich manchmal allein eine halbe Stunde dafür brauche, um zu kapieren, was die mit einem Bauteil bezweckten, dann denke ich, die müssen damals verrückt gewesen sein“, sagt Lühmann und lacht – ein bisschen auch über sich selbst. Schließlich ist er kaum weniger detailverliebt als die alten Meister seiner Zunft.
Lühmanns Werkstatt misst nur wenige Quadratmeter. Mehr braucht er nicht: Denn die Maschinen sind, so wie die Bauteile, mit denen er arbeitet, eher klein. Die vors Auge geklemmte Uhrmacher-Lupe ist daher ein tägliches Arbeitsgerät. Viele der Werkzeuge, mit denen der Ritterhuder arbeitet, sind zudem so alt wie die Uhren, bei deren Reparatur sie zum Einsatz kommen. Und Ersatzteile? „Die gibt es nicht“, sagt der Uhrmacher. Was kaputt ist, muss komplett neu gemacht oder aus anderen alten Bauteilen umgeformt und hergestellt werden. Selbst die Spannfedern, die in vielen Wanduhren statt der Gewichte die Pendel antreiben, seien immer schwieriger zu bekommen. Viele Firmen, die sie produzierten, hätten in den vergangenen Jahren aufgegeben.
Es ist jedoch nicht nur die ausgetüftelte Mechanik, die Michael Lühmann an den alten Uhren so fasziniert. Oder etwa das Wissen, dass die Unruh, als Herz des Uhrwerks, und jedes noch so kleine Zahnrad sowie die Gewichte, die Spannfeder, das Pendel ohne moderne Technik, ohne Computer und nur bei Tageslicht beziehungsweise höchstens im Schein einer Petroleumlampe geschaffen wurden.
Darüber hinaus erzählt jedes dieser Kunstwerke seine eigene Geschichte. „Die Comtoise-Uhr ist zum Beispiel ein Typ, der über Hunderte von Jahren hergestellt wurde“, bemerkt Michael Lühmann. Vor der französischen Revolution sei sie mit drei Lilien, dem Symbol des Königshauses, verziert gewesen. Solch eine Uhr war nicht nur ein Statussymbol, sie war auch ein politisches Statement. Ihre Besitzer waren königstreu. „Nach der Revolution haben viele die drei Lilien aus der Verzierung rausgefeilt“, sagt er. Später wurden Comtoise-Uhren mit der Jakobiner-Mütze als Zeichen der Revolution verziert. Noch später stellen andere Comtoise-Uhren durch ihren Schmuck eine Verbindung zu Napoleon dar.
Eine weitere Uhr an Lühmanns Wand fällt durch ihr rot-schimmerndes Gehäuse ins Auge. „Das ist eine französische Boulle-Uhr“, sagt Lühmann. Das Material sei Schildpatt – aus dem Panzer von Meeresschildkröten gewonnen. Die Tiere seien heute streng geschützt. Zu der Zeit, da diese Uhr entstand, wurden die Tiere noch zu Hunderten getötet. „Der Panzer einer echten Karettschildkröte wurde mit Gold aufgewogen“, erzählt der Uhrmacher. Auch deshalb, weil die Panzer in den Laderäumen der Schiffe gestapelt wurden. Auf dem langen Weg aus der Karibik nach Europa wurden sie von Pilzen und Würmern zerfressen, sodass ganze Schiffsladungen am Ende nur noch weggeschmissen werden konnten.
Ob aus königstreuer Hand, vom Revolutionär oder Napoleon-Anhänger, ob aus französischen, deutschen, österreichischen oder englischen Werkstätten, ob 100 oder mehr als 300 Jahre alt, im Taschenformat, als Turmuhr oder gar Weihnachtsbaum-Ständer mit Uhrwerk – Michael Lühmann nimmt sich der Mechanik all dieser verschiedenen Zeitmesser an. „Je älter, je lieber“, sagt er. Und wenn er dann auch noch erfahre, dass der Besitzer mit seiner Uhr, dem Klang der Glocke, dem Ticken des Pendels besondere Erinnerungen verbindet, mache ihm seine Arbeit noch mehr Freude.
Weitere Informationen zu Michael Lühmanns Uhrenwerkstatt in Ritterhude gibt es im Internet unter www.ihr-uhrmacher.com.