Ritterhude. Kann das Zufall sein? Während sich der Saal im Hamme-Forum allmählich mit AfD-Mitgliedern und Interessenten füllt, lässt die Regie französischen Flamenco-Pop als Hintergrundmusik laufen. Die südländische Zigeuner-Folklore der Gipsy Kings wird lautstark abgelöst vom schmissigen Radetzky-Marsch, der mit 15-minütiger Verspätung den Veranstaltungsbeginn markiert. Der Moderator versucht gleich, die rund 300 Besucher zum Mitklatschen zu animieren. Vergebens. Erst später wird Stargast Alice Weidel ein wenig Bierzelt-Atmosphäre verbreiten.
Noch ist die Lage angespannt, die polizeilichen Sicherheitsvorkehrungen rings ums Veranstaltungszentrum waren massiv. Die Zugangskontrollen des gastgebenden Kreisverbands sind es nicht minder. Das somit handverlesene Publikum wird zunächst von der Bühne aus darauf hingewiesen, dass die Gastgeber infolge der Gegendemonstrationen auch eine Notfall-Evakuierung nicht ausschlössen. So weit sei es also schon gekommen, soll das wohl bedeuten. Die Wandschmiererei „Alice verpiss dich!“ vom vorvorigen Abend hat die Stimmung in den sozialen Medien ordentlich angefacht.
Der AfD-Kreisvorsitzende Thorben Freese beteuert auf Nachfrage, er hätte auf derlei Mobilisierung und Publizität gern verzichtet. Auf eigene Kosten habe man die Sachbeschädigung der Demokratiefeinde sogleich behoben, wie auch die Bauzaungitter und der zweitägige Security-Einsatz aus der Parteikasse finanziert würden. Die Rechtspopulisten sehen sich als Opfer, das werden Freese und seine Parteifreunde später auch auf der Bühne wiederholen, wo gegen den Verfassungsschutz, die „Kartellparteien und die Gehirnwäsche der Medien“ geledert wird.
Zunächst werden die akkreditierten Mediengäste in den Kinosaal im ersten Stock geleitet, wo auf der Leinwand AfD-Landtagsreden in Endlosschleife laufen. Eifrige Parteifunktionäre möchten den Besuchern der freien Presse gerne Heliumballons und Leinenbeutel mit Parteilogo aufnötigen. Netter Versuch. Der Abstecher in den ersten Stock ist kein Zufall, sondern eine selbstbewusste Demonstration: 2016, als die Bundessprecherin Frauke Petry im Hamme-Forum auftrat, blieben Lichtspiele und Gastronomie für die AfD geschlossen. Dieses Mal sei das anders, wie Thorben Freese stolz betont.
Auf Stimmenfang in der Mitte
Die Rechten, das signalisiert auch die anfängliche Musikwahl, blinken zur bürgerlichen Mitte. Das gelingt nicht immer. Wobei: Manche Europa-Parole hätte auch von Franz-Josef Strauß stammen können. Die Kritik an einer sogenannten Enteignung der Sparer (durch die EZB), der Diesel-Fahrer (durch EU-Grenzwerte) und Landwirte (durch Naturschutzgebiete) sind auch keine AfD-exklusiven Positionen. Der Europawahlkampf beginnt, da geht es um Anschlussfähigkeit für breitere Wählerschichten. Man gibt sich als Anwalt des deutschen Steuerzahlers, ist gegen Russland-Sanktionen und Upload-Filter.
Aber wenn den AfDlern in ihrer Schnauze-voll-Attitüde der rhetorische Schafspelz verrutscht, wird erkennbar, was auch die Verfassungsschützer der Partei und ihren Gliederungen bescheinigt haben: ein höchst fragwürdiges Verhältnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung. Allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz. Der Landtagsabgeordnete Klaus Wichmann, ein Jurist und Kabarettist, kann sich denn auch eine Abschaffung des Verfassungsschutzes gut vorstellen.
„Wir lassen selbstverständlich auch kritische Fragen zu“, sagt Freese gerade in seinem Grußwort, als sich plötzlich der ganze Saal erhebt und zu applaudieren beginnt. Der Grund ist nicht Freese, sondern das Eintreffen von Alice Weidel. Die AfD-Frontfrau wird begrüßt als „die nächste Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland“. Großes Hallo. „Musst doch nicht immer so stramm stehen, wenn du mich siehst“, schäkert die Fraktionsvorsitzende wenig später einen Parteifreund von der Bühne aus an. Einige gnickernde Männer finden das eindeutig zweideutig.
So geht das nun drei Stunden. Die Landeschefin Dana Guth wettert unwidersprochen, ein „enthemmtes Brüsseler Bürokratie-Monster“ habe Abgasnormen und FFH-Richtlinien oktroyiert (In Wahrheit liegen einstimmige Beschlüsse von Europäischem Rat und Parlament aus 1992 und 2007 zu Grunde, Anm. d. Red.). Weidel gibt dem Affen Zucker, lässt eine schillernde Endlos-Liste national-konservativer Positionen vom Stapel, die sich „gegen eine Umverteilung in die maroden Südländer“ und gegen den unaufgeklärten Islam richten. Maastricht 1992? Ist bestimmt nicht im Sinne von Adenauer und de Gaulle; eher „ein Versailler Vertrag ohne Krieg“.
Die AfD, das kapiert nun jeder, will die europäische Integration zurückdrehen. Unklar bleibt, worin eine wirkliche Alternative für Deutschland bestünde. Und wie das postulierte Ziel – „ein Europa der Vaterländer“ – zu erreichen wäre. Weidel meint einerseits, die wirtschaftsstarken Länder sollten mit Deutschland die Euro-Zone verlassen; andererseits sollten die Nationen doch bitte als Freunde und Nachbarn zusammen leben. Einerseits müssten die Konten der Nationalbanken im Euro-Zahlungsverkehr endlich mal glattgezogen werden; andererseits würde genau dies den endgültigen Kollaps bedeuten.
Deutschland gleiche einem Supermarktbesitzer, der morgens jedem Kunden einen 1000-Euro-Schein in die Hand drückt und sich abends über die Riesenumsätze freut, behauptet die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin. Wie der Händler in diesem Fallbeispiel zu seinem Geld gekommen ist, erklärt sie nicht. Nachdem Weidel mehrfach für ihr neues Buch geworben hat, spielt sie am Ende die Parteispenden-Affäre herunter, die ihr erwartungsgemäß „zum Hals raushängt“: Der Betrag sei läppisch, das Geld längst zurückgegeben; sie habe davon nichts gehabt.
Bevor die Partei als geschlossene Gesellschaft weiter feiert, übernimmt wieder der Tontechniker die Regie: Vom Band läuft nun die erste Strophe des Deutschlandlieds.