Ritterhude. Ihr jüngster Fan ist dreieinhalb und ihre Enkeltochter. Die Lütte weiß, was sie will: „Eine Geschichte, Omi“, bittet das Mädchen, wenn es bei der Großmutter zu Besuch ist. Karin Ledig lächelt. Geschichten gehören seit gut 20 Jahren zu ihrem Leben. Karin Ledig ist professionelle Märchenerzählerin. Kinder wie Erwachsene lassen sich von ihren Worten verzaubern.
Natürlich hat sie immer auch für die Enkeltochter eine kleine Geschichte auf den Lippen. Ein kurzes Märchen, das das Mädchen nicht überfordert. „Man nennt sie auch Ammenmärchen“, sagt Karin Ledig. Eigentlich sind die Kinder, denen sie Märchen erzählt, etwas älter. Mit fünf Jahren seien Mädchen und Jungen alt genug, um Geschichten aufmerksam folgen zu können, weiß Karin Ledig.
Sie selbst war als Kind auch auf dem Schoß ihrer Großeltern eingetaucht in die abenteuerlichen Welten der Märchenfiguren, deren Geschichten sie lauschen durfte. Doch dann kamen ihr die Märchen abhanden. Bis sie Mutter wurde und Gefallen daran fand, ihren Kindern vorzulesen und Märchen zu erzählen. Vollends gepackt wurde Karin Ledig aber erst, als sie 40 Jahre alt war. Dann kamen die Märchen noch einmal auf eine andere Weise zu ihr zurück. Mit aller Macht. Die Ritterhuderin verspürte den Wunsch, Märchenerzählerin zu werden.
Damals bekommt sie – Zufall oder nicht – die Märchenzeitschrift „Troubadour“ in die Hände. Karin Ledigs Blick fällt auf eine Anzeige: „Sommerfestival für die ganze Familie mit Märchenerzähler und Märchenbühne im Märchenzentrum Vlotho“. Die Familie meldet sich an und erlebt eine inspirierende Sommerzeit. Karin Ledig fühlt sich durch die Seminare und Rollenspiele angeregt. In der studierten Ernährungswissenschaftlerin keimt der Wunsch, sich zur Märchenerzählerin ausbilden zu lassen. Heute hortet sie längst einen reichen Erfahrungsschatz. Karin Ledig schenkt dem Gast und sich Kräutertee ein und greift zu dem Gästebuch, in dem lauter beglückte Zuhörer berührende Worte des Danks hinterlassen haben.
Damals in Vlotho sei sie wohl ihrer Berufung begegnet, sagt die Frau mit den weichen Gesichtszügen rückschauend. Es habe gar kein Weg drumherum geführt, sich zu der zweijährigen Ausbildung zur professionellen Märchenerzählerin anzumelden. Wenn Karin Ledig davon berichtet, klingt das auch ein bisschen verwundert. „Ich habe es bis dahin nie gemocht, im Mittelpunkt zu stehen.“ Aber genau das ist es, worauf sie zusteuert: vor Menschen frei erzählen, am liebsten so, „dass es aus mir selbst kommt, dass ich wirklich was mitzuteilen habe, dass ich in den Märchen lebe und dass der Funke überspringt“.
Karin Ledig lernt, wie sie die Märchen, die sie frei erzählen will, künstlerisch gestalten kann. Welche Wirkung ein musikalischer Rahmen hat, wie man eine Märchenbühne baut oder Märchenpuppen. Sie kauft „feierliche Requisiten“, und kleine Musikinstrumente, die einen geheimnisvollen Klang geben. Es ist nicht das Bild von der Märchen-Oma, die im Lehnsessel das Buch aufschlägt und daraus vorliest, das sie für ihre Auftritte im Sinn hat.
Am Ende ihrer Ausbildung steht eine praktische Prüfung. Karin Ledig soll in ihrer Gegend ein zweieinhalb Tage dauerndes Märchenfest auf die Beine stellen. Als stimmungsvolle Kulisse wählt sie Schloss Schönebeck in Bremen-Nord und erregt damit sehr viel Aufmerksamkeit. In einem Ordner hat sie all die Zeitungsartikel gesammelt, die damals im Jahr 1998 dazu erscheinen. Im Radio läuft ein Interview mit ihr. Karin Ledig hat den Sprung ins kalte Wasser zum Ausbildungsende gut gemeistert. Nach dieser praktischen Prüfung ist die Ritterhuderin auf dem Weg, sich als Märchenerzählerin bekannt zu machen. „Für mich ist es das größte Geschenk, dass ich das für mich entdeckt habe“, sagt sie. „Ich habe Selbstbewusstsein gewonnen, einen Sinn, und ich darf meinem Publikum etwas schenken.“
Wo sie seitdem schon überall war mit all den Geschichten in ihrem Kopf. Um die 70 Märchen hat sie sich in den 20 Jahren erarbeitet. „Innerhalb von einer Woche hätte ich zehn bis fünfzehn parat“, sagt die Märchenerzählerin. Spontan fällt ihr in diesem Moment ein heiteres Märchen aus Indien ein: „Die Erschaffung der Frau“. Karin Ledig richtet sich im Sitzen ein bisschen mehr auf, ihre Augen schicken ein Leuchten voraus und dann folgen die Worte. Vom Dilemma der Paare, vom Miteinanderauskommen und Nichtauskommen, von Nähe und Distanz und von der Weisheit, das Gute dabei nicht aus dem Blick zu verlieren.
Sie hat zwei Lieblingsmärchen. Im Moment. „Das wandelt sich im Lauf der Jahre“, hat Karin Ledig gespürt. Früher waren es orientalische Märchen, mit erotischen Zügen, „in denen es frecher zuging“. In denen die Frauen mit List und Klugheit gesegnet sind. Jetzt zieht es sie eher zu den tiefsinnigeren Stoffen, in denen es um Lebenswege geht. „Um die Wandlung der Liebe in Beziehungen.“ Besonders gefallen ihr das schwedische Märchen „Die Weberin“ und „Der Trommler“ von den Brüdern Grimm, das sie auch wegen der „Pfiffigkeit“ des Trommlers mag. „Und auch hier sind die Frauenfiguren sehr aktiv“, bemerkt Karin Ledig. Man sollte die Frauen in den Märchen nicht klischeehaft wahrnehmen. „Dass die Frauen nur sitzen und warten – das gibt es nicht.“ Im Gegenteil: „Sie setzen viele Impulse, verfügen über Herzensqualitäten und sind bereit, schwere Wege zu gehen. Die Frauen haben Durchhaltevermögen.“ Nicht zuletzt mag sie die beiden Märchen auch wegen der Erkenntnis: „Es gehen nur die männlichen und weiblichen Qualitäten zusammen.“
Märchen seien deshalb für alle Altersgruppen so spannend, „weil in ihnen ganz viel Lebensweisheit steckt“. Märchen können Lebensphasen begleiten, ist Karin Ledig überzeugt. „Wenn ich in die Märchen eintauche, tun sich Welten auf.“ Die Märchenhelden durchlaufen – bis zum guten Ende – Entwicklungen, in denen sich die Zuhörer wiedererkennen können. „Märchen erreichen mit ihrer Aussage jeden da, wo er gerade steht im Leben.“ Nicht umsonst sind auch erwachsene Zuhörer „ganz angerührt“ von den Geschichten. Nicht umsonst wurde das Märchenerzählen vor zwei Jahren ins Verzeichnis „Immaterielles Kulturerbe“ aufgenommen. Weil erzählte Märchen Denkanstöße liefern und Sinn vermitteln. Und darüber hinaus Sprache fördern und in ihrem Bilderreichtum die Fantasie anregen. Karin Ledig ist heute genauso fasziniert wie vor 20 Jahren: „Ein erzähltes Märchen dauert in der Regel 15 Minuten, aber da steckt alles drin.“
Zwei Wochen braucht sie, um sich ein Märchen so zu erarbeiten, dass sie es frei erzählen kann. Sie widmet sich den einzelnen Figuren, betrachtet, wie sie sich im Lauf der Geschichte verändern, was sie erleben und wie sie sich dabei fühlen. Dann liest sie sich das Märchen Abschnitt für Abschnitt laut vor. Bis sie es so verinnerlicht hat, dass sie es „wie einen Kinofilm“ wiedererzählen kann. Dabei empfinde sie selbst wie die Figuren der Handlung. So gelinge es ihr, sagt Karin Ledig, ihre Märchen „by heart“ zu erzählen. Wer gern mal lauschen möchte: am 26. Mai erzählt sie beim Märchenfest in Wiesmoor und am 22. Juni beim Kleinkunst-Abend ab 20 Uhr in der Christus-Kirche Vegesack. Im Internet findet man Karin Ledig unter www.maerchensonne.de.