Ritterhude. Die Sonne trügt. Zwischen den Grabsteinen des Alten Friedhofs in Ritterhude ist es an diesem Vormittag frostig. Auf wärmere Zeiten kann Uwe Fredrich aber nicht warten. „Die Verkehrssicherungspflicht verpflichtet die Gemeinde dazu, einmal im Jahr die Standsicherheit der Grabmale zu überprüfen“, erklärt der Verwaltungsmitarbeiter von Ritterhude. Auch der Zeitpunkt sei vorgegeben: „Das soll nach dem Frost, möglichst in der K-Woche passieren.“ Also dann, wenn die Feiertage die Angehörigen auf die Friedhöfe führen, wenn die Gräber neu bepflanzt werden. Und diese Verkehrssicherungspflicht gilt für alle Kommunen.
Seit 8 Uhr morgens ist Fredrich daher an diesem Tag mit dem Bremer Steinmetzmeister Daniel Wöhler unterwegs. Nicht ganz zwei Arbeitstage, rechnet Fredrich, werden sie für alle vier kommunalen Friedhöfe benötigen. Die ersten 300 Grabmale haben sie bereits getestet. „Insgesamt müssen wir gut 1700 Steine prüfen.“ Dann folge der Papierkram. Die Grabbesitzer, deren Grabsteine den Test nicht bestanden haben, werden von Fredrich umgehend angeschrieben. Sie müssen auf ihre Kosten dafür sorgen, dass die Standsicherheit der Steine wieder hergestellt wird.

Mithilfe der Elektronik übt der "Kipptester" eine Drucklast von 30 Kilo auf den Grabstein aus.
„Bis jetzt haben drei Grabmale die Kriterien nicht erfüllt“, sagt Daniel Wöhler. Er steht an einem noch relativ neuen Stein aus poliertem Granit. Ohne großen Kraftaufwand lässt er sich bewegen. Daniel Wöhler schätzt sein Gewicht auf 300 Kilo. „Wenn der Stein kippt, hält den nichts mehr“, sagt Fredrich. Da müsse sich nur ein Grab-Besucher beim Aufstehen am Stein festhalten, und das Unglück sei geschehen, fürchtet er. Vor seiner Zeit bei der Gemeinde soll einer Angehörigen einmal ein solcher Koloss auf den Fuß gefallen sein, berichtet er.
Da das von Wöhler und Fredrich beanstandete Grabmal höher als die Grabeinfriedung steht, könnte es sowohl nach vorn als auch nach hinten kippen. Fredrich hat daher die Grabstelle mit vier Stangen samt rot-weißem Flatterband abgesperrt. Ein Aufkleber pappt auf dem Stein. Zusätzlich zum Schreiben der Verwaltung informiert dieser die Angehörigen darüber, dass es ein Problem mit dem Grab gibt. „Nutzungsrecht abgelaufen“, „Grabpflege erforderlich“ oder auch „Ruherecht abgelaufen“ steht auf dem Papier. Das jeweils Zutreffende wird markiert. Die Aufkleber auf den drei kritischen Grabstellen tragen diese Markierung neben dem Hinweis „Grabstein ist lose“.

Besteht er den Test nicht, bekommt er unter anderem einen Hinweis-Aufkleber.
„Früher habe ich die Grabmale ohne Maschine geprüft“, berichtet Uwe Fredrich. 1998 sei das gewesen. Dabei habe er erst die Kante des Steins von oben gepackt und leicht gerüttelt. Im zweiten Schritt habe er dann aus der Horizontalen heraus mit den Armen einen Druck von 30 Kilo gegen den Grabstein eingesetzt. Das verlange die Verkehrssicherungspflicht auch heute noch. „Diese Last muss jedes Grabmal aushalten“, bestätigt Daniel Wöhler. Direkt nachdem ein Stein auf einem frischen Grab errichtet worden ist, müsse er sogar einer Drucklast von 50 Kilo standhalten können, sagt der Steinmetz.
2018 zehn Steine beanstandet
„Manuell – also ganz ohne Maschine – schafft man aber nur 50 Grabmale am Tag“, erzählt Fredrich. Dann melde sich der Rücken. Damals, 1998, in seinem ersten Jahr in Ritterhude, habe er nach der Hälfte der Steine auf dem Alten Friedhof aufgehört. „Da war jeder zweite Grabstein locker“, erinnert er sich. Warum? Das kann er bis heute nicht sagen. Aber sein Prüfergebnis sei bei den Bürgern nicht gut angekommen. Einige von ihnen warfen ihm vor, dass erst sein Test den Stein gelockert habe. Zu diesen Vorwürfen kam, dass es ohne Maschine tatsächlich schwierig zu sagen ist, wann eine Drucklast von 30 Kilo erreicht ist. „Deshalb habe ich dann eine Maschine für den Test besorgt“, berichtet Fredrich. Doch selbst deren Mechanik forderte noch einen hohen körperlichen Einsatz. „Mit der habe ich dann etwa 100 Grabmale geschafft, bevor der Rücken streikte.“
Seit Anfang der 2000er-Jahre arbeitet die Gemeinde Ritterhude daher mit Daniel Wöhler, dem Inhaber der Stein- und Bildhauerei Werth in Bremen, zusammen. Sein „Kipptester“ funktioniert elektronisch. Der körperliche Einsatz ist dabei minimal. Wöhler demonstriert den Vorgang. Er bringt den Teil des Gerätes, der die horizontale Last gegen den Stein aufbringt, in Position. Gleichzeitig greifen zwei Metallstifte am Fuß des Gerätes ins Erdreich, verankern es und geben ihm die nötige Stabilität. Dann startet der Steinmetz den Test. Elektronisches Piepen ist zu hören. Als die einzelnen Töne zu einem anhaltenden Fiepen verschmelzen, beträgt die Last, die nun gegen den Steinrücken drückt, 30 Kilo. Das Grabmal hat sich nicht gerührt. Test bestanden. „Letztes Jahr waren es zehn, das Jahr davor vier Steine, die durchfielen“, rekapituliert Fredrich. Dieses Jahr werden es auf allen vier Friedhöfen wieder zehn Steine sein, die umkippen könnten, schätzt er: „Zum Glück ist das in meiner ganzen Zeit hier nie passiert.“ Und damit das weiterhin so bleibt, wird nächstes Jahr vor Ostern wieder getestet.