Worpswede: Zu Gast in der Welt von Pit Morell Humi ist überall und nirgendwo

„The Book Of Humi“ ist Titel einer Monografie über Pit Morell und gleichzeitig der Begriff, unter dem der Worpsweder Künstler sein Gesamtwerk zusammenfasst. Humi ist eine Welt zwischen Fantasie und Realität.
26.11.2020, 20:30 Uhr
Lesedauer: 4 Min
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Von Lars Fischer

Worpswede. Die Tür ist schwer. „Original Hoetger“, sagt Pit Morell ein bisschen warnend, aber nur, damit der Besucher nicht zu Schaden kommt. Es ist wie der Eintritt in eine andere Welt, eine Art Hobbit-Höhle wie bei Tolkien. Wo Morell ist, ist Humi, sein künstlerisches Universum, irgendwo am Übergang zum Fantastischen, aber nie ohne Bezug zur Realität. Der Künstler lebt mitten in Worpswede, im Nebengebäude der Großen Kunstschau, dem ehemaligen Logierhaus. Das Foyer des früheren Hotels ist sein Arbeits- und Wohnzimmer, der Zeichentisch darin wirkt unscheinbar klein. Er habe in den vergangenen Jahren die Reduktion für sich entdeckt, sagt der Maler, Zeichner, Dichter, kurzum der Universalkünstler Morell. Er setze jetzt auf kleine Formate, die bräuchten nicht mehr Platz.

Es geht um nicht weniger als sein Lebenswerk. Der 81-Jährige, der seit 1964 in Worpswede lebt, wuchs in Nordhessen, unter anderem im Dorf Hümme, auf. Das hat wie er eine Jahrhunderte alte Bindung zu den Hugenotten, und im deutsch-französischen Sprachgewirr wurde der Name mal zu Hume oder eben bei Morell zu Humi. Das klingt nach Humus, nach Bodenhaftung, sein Werk ist aber alles andere als das. Es hebt die Dimensionen aus den Angeln, „The Book Of Humi“ – auch wenn es jetzt als Druckwerk vorliegt – ist ein unendliches Konvolut an Arbeiten, das ständig wächst und nie fertig wird. Es ist alles und nichts, Humi ist überall, aber nie zu greifen.

Der Hausherr bittet zum Kaffee, das Wasser kocht schon, aber die Kunst kommt dazwischen. „Bei Morell ist Abschweifen immer mit drin“, sagt er und lächelt kaum merklich dabei. Er ist von einem etwas spröden Charme und großer Zurückhaltung. Im öffentlichen Leben des Künstlerorts findet er eigentlich nicht statt, obwohl er selbst sich nicht abschottet. Sein Biograf Bernd Küster, der Autor des jetzt erschienenen „Book Of Humi“, lernte ihn 1989 kennen, als er in der Großen Kunstschau die Ausstellung zum 100. Geburtstag der Künstlerkolonie Worpswede einrichtete. „Ich habe immer gewusst, dass nebenan Pit Morell ist und zeichnet. Aber gesehen habe ich ihn nie“, berichtet Küster. Getroffen haben sie sich dann zufällig im Café. Für den Kunsthistoriker ist Morell nicht weniger als einer der letzten großen Worpsweder. „Keiner weiß eigentlich, was er macht. Ich weiß es jetzt und kann nur sagen: Es ist spektakulär. Man glaubt gar nicht, wenn man durch Worpswede geht, dass da noch einer sitzt und an einem ganz großen Œuvre arbeitet.“

Angefangen hat alles damit, dass der gelernte Schauwerbegestalter – heute wäre das wohl ein Dekorateur – in den 1950er-Jahren begann, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Sie vermischten sich mit seinen poetischen Werken, Zeichnungen, Radierungen und Objekten. Morell ist ein Erzähler auf vielen Ebenen, ein Sammler und Träumer, manchmal schon surreal, dann wieder konkreter. Vermutlich ist auch das Buch von Küster nur eine spaltbreit offene Tür ins Werk, so wie die reale von Hoetger. Dahinter ist das Kaffeewasser schon wieder abgekühlt, weil die Erinnerungen dazwischen drängen. „Worpswede ist ein unschuldiger Ort gewesen, als wir ankamen“, erzählt Morell. „Man verstand meine Arbeiten hier nicht.“

Zuerst lebte er mit seiner Familie auf den Marcushof (dem späteren Hotel Eichenhof), dann in der Mackensen-Villa, in deren Keller sich eine berühmt berüchtigte Künstler-Kneipe befand. Dort war es ihm viel zu laut, er zog wieder aus, schließlich kam er über Umwege ins Logierhaus, wo er blieb. Der Landkreis als Vermieter mahnte ihn, die Fliesen im Innenbereich seien Originale, die müssten heil bleiben. Pit Morell richtete sich drumherum ein, seine Bilder und Fundstücke bilden eine homogene Einheit mit dem unorthodoxen Baukörper.

Hang zur Melancholie

Im nächsten Anlauf gelingt der Kaffee. Dazu gibt es mit Walnüssen gefüllte Datteln, zubereitet von Frau Morell, die der Besucher selbst aber nicht zu Gesicht bekommt. Draußen gehen Museumsmitarbeiter vorbei, nebenan steht ein Ausstellungswechsel an. Pit Morell registriert jede Bewegung, er hört offenbar wie ein Luchs, die Augen sind wach und klar. Ob er eigentlich ein Nostalgiker sei, will der Besucher wissen. Doch, einen Hang dazu und auch zur Melancholie verspüre er schon, sagt der Künstler. Bald darauf ist er wieder bei den Hugenotten und der eigenen Kindheit, der Wolkenbildung über Worpswede und der lebenslangen Künstlerfreundschaft zu Albert Schindehütte. Er ist sprunghaft, es ist nicht ganz einfach, ihm zu folgen, aber faszinierend. Die Mosaiksteinchen fügen sich zu einem Ganzen, einem Leben und Werk, das Bernd Küster „schön erkannt“ habe. „Er hat in mich geschaut“, sagt Morell.

Und Bernd Küster findet: „Wenn man seine Kunst kennt, dann mag man sie auch.“ Er ist überzeugt, Morell könnte ein Pfund sein, mit dem Worpswede viel mehr wuchern müsste – auch „als Teil der Verpflichtung, die man als musealer Standort einfach auch annehmen muss“. Morells eigener Umgang mit seiner Kunst ist vor allem pragmatisch. Er berichtet, wie er seine Zeichnung „Der Schäfer kommt“, die 1977 auf der Documenta gezeigt wurde, einst im VW-Käfer zurück nach Worpswede transportierte. Die Türen gingen nicht ganz zu, sie wurden halt mit Kälberstricken festgebunden. Eine Anekdote nur, von unerschöpflich vielen. Der Kaffee ist getrunken, die Datteln sind gegessen. Pit Morell striegelt die strahlend rote Samttischdecke mit dem Handfeger. Nicht weil es Krümel gäbe, sondern damit der Stoff wieder perfekt liegt. „Das geht nur mit echtem Rosshaar“, gibt er dem Besucher noch mit auf den Weg zum Ausgang von Humi. Dahinter ist es dann noch etwas novembergrauer als zuvor.

Info

Zur Sache

Ausstellung im Januar

Zu Pit Morells 80. Geburtstag im Jahr 2019 ist keine Ausstellung in Worpswede zustande gekommen. Nun will die Galerie Altes Rathaus sein Werk mit einiger Verspätung würdigen. Am 3. Januar 2021, dem Vortag von Morells 82. Geburtstag, soll die abermals wegen der Corona-Pandemie verschobene Werkschau eröffnet werden und dann bis zum 7. Februar zu sehen sein. Bernd Küster, Autor der Monografie über Morell, kuratiert auch die vor allem biografische Ausstellung.

Weitere Informationen

Bernd Küster „The Book Of Humi – Leben und Werk des Zeichners und Poeten Pit Morell“. Donat Verlag, Bremen, ISBN 978-3-949116-00-1, 216 Seiten, 29,80 Euro.

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