Worpswede. Es war das Jahr 1685, als König Ludwig XIV. den Hugenotten ein Ultimatum stellte: entweder sich seiner Konfession, der katholischen, zu unterwerfen oder das Land zu verlassen. So wählten viele Protestanten den Weg der Emigration und zogen Richtung Osten. Nach Preußen, Hessen oder andernorts. Aber was hat diese Geschichte mit Worpswede zu tun? Immerhin so viel, als dass die Welt von Humi ohne sie nicht denkbar ist.
Denn vor über dreihundert Jahren zogen auch die Vorfahren Pit Morells aus diesem Grund nach Nordhessen, in das Dorf Hümme. Meist waren es Handwerker, die damals ihre Heimat aus Glaubensgründen verließen. Und deren Wissen und Können bei den neuen Herrschern willkommen waren. Auch der hessische Landgraf wusste die besonderen Gaben, die die Vertriebenen mitbrachten, zu schätzen. Als Willkommensgruß gewährte er ihnen 20 Jahre lang Abgabenfreiheit. So wurden die Morells, aus der Dauphiné im Süden Frankreichs kommend, in Hessen sesshaft.
Einer ihrer Nachfahren, Jean Peter Morell, genannt Pit, wurde am 4. Januar 1939 in Kassel geboren. Im nahe gelegenen Reinhardswald wuchs er auf. Dorfnamen wie Sielen und Hümme prägten seine Kindheit und Jugend, und wurden später sichtbar in seiner skurrilen Kunst: in der Fantasiewelt von Humi. Am Anfang aber stand das Sprachgebilde Humi, denn in einem uralten Taufbuch steht Hume statt Hümme. Vermutlich ein Übertragungsfehler.
Da stand es nun Schwarz auf Weiß und überdauerte die Zeiten. Bis es Jahrhunderte später jener Pit Morell entdeckte – und seiner Fantasie Flügel verlieh. Bei ihm wurde aus Hume Humi, eine Welt, in der „es von Seltsamkeiten wimmelt“, wie es in einem Zeitungsbeitrag schon vor 40 Jahren zu lesen war. Morell sei, so heißt es darin weiter, die vielleicht eigenartigste Erscheinung im Bereich Ars Phantastica. Denn er war auf allen wichtigen Ausstellungen des Phantastischen Realismus jener Jahre vertreten. Er, der Radierer, der von der Zeichnung her kommt.
Natursuche führt nach Worpswede
Das Zeichnen sei von Natur aus seine Begabung, sagt Morell. Er hat es vom Vater geerbt. So besuchte er nach einer kaufmännischen Lehre die Staatliche Werkkunstschule in Kassel. Doch bald schon kehrte er dem Akademiebetrieb den Rücken und fuhr nach Paris. Über Bremen kam er dann Anfang des Jahres 1965 nach Worpswede, zusammen mit der Ehefrau Rosmarie und den Kindern. Zu diesem Zeitpunkt habe er „Wald, Fluss und Hügel“, also Natur gesucht, erinnert er sich.
In seiner Kunst geht Pit Morell von der Wirklichkeit aus, um diese dann „zu verändern und etwas hinzu zu fantasieren“, wie der Künstler seinen Schaffensprozess beschreibt. Dabei ist die Linie die Basis, die sich zu skurrilen Formen verdichten kann. Anfänglich entstanden Zeichnungen, vorzugsweise mit Farbstiften auf kaseingrundierten Flächen; in Worpswede dann zunehmend Radierungen. Dieses Medium fesselte und forderte ihn zugleich. Innerhalb eines halben Jahrhunderts entstanden 1300 Radierplatten. Ein Lebenswerk!
Und da tauchten sie dann wieder auf, die Dörfer der Kindheit, verwandelt in Humi. Aber Humi liegt auch in Worpswede. Eigentlich sei Humi überall, sagte der Grafiker einmal, der auch als Lyriker unterwegs ist. Seit nunmehr 50 Jahren beschäftigt ihn dieses Fantasieland, diese ins Fantastische gewendete Wirklichkeit. So arbeitet er derzeit am „Book Of Humi“, das zahllose kleinformatige Zeichnungen aufnimmt. Seine Produktivität ist ungebrochen, es gibt bereits mehrere Bücher. Humi also lebt weiter.
Und in diesen 50 Jahren hat Pit Morell mit seiner Kunst das junge, zeitgenössische Worpswede mitgeprägt, vor allem auch nach außen getragen. So schuf er Jahresgaben für mehrere Kunstvereine. Druckgrafiken entstanden auch im Auftrag der Kestner-Gesellschaft in Hannover oder der Griffelkunstvereinigung in Hamburg. Einzelausstellungen würdigten bundesweit sein Schaffen, und auch in den Medien war er immer wieder präsent. So strahlte das ZDF ein Morell-Porträt aus oder das Zeit-Magazin widmete sich in einem großen Beitrag dem Künstler aus „Humiland“. Nicht zu vergessen seine Documenta-Präsenz im Jahre 1977 in Kassel.
Morell, der seit über fünf Jahrzehnten Worpsweder Kunstgeschichte mitschreibt, hat auf das Künstlerdorf keinen rückwärtsgewandten Blick. Worpswede ist für ihn eher ein „Ort des Sichbesinnens“. Mascha Vogeler, dritte Tochter von Martha und Heinrich Vogeler, aber sagte mal zu ihm: „Vater hätte Sie gemocht.“ Kein Wunder, auch Heinrich Vogeler war ein Meister der Linie – wie Pit Morell.