Am Rande von Worpswede brummt der Garten von Julia Wehner vor Leben: Vom Wasser schallt der Ruf eines Frosches rüber, Hummeln sammeln eifrig Nektar und eine Meise flattert auf der Suche nach einer Nistmöglichkeit die Dachkonstruktion des Hauses ab. Mit diesem grünen Reich hat sich die Naturgartenplanerin ihren privaten Traum von scheinbar ungezähmter Natur erfüllt.
„Ich habe mich früh für Gärten interessiert“, erzählt sie. Irgendwann fielen ihr Berichte über den Niederländer Piet Oudolf in die Hände. Seine Stauden- und Gräserlandschaften vermitteln die Illusion unberührter Natur. Wehner fühlte sich von der Ästhetik angesprochen. Diese Vorliebe habe sie von ihrer Mutter, einer Künstlerin, mitgegeben bekommen. „Mit meinem Vater bin ich raus in die Natur.“ Ästhetik einerseits und Natur andererseits seien somit die Dinge, die sie in einem Garten suche. „Als ich diesen hier anlegte, wollte ich eine Mischung aus beidem. Ich wollte einen Naturgarten, der sich anfühlt wie ein Ziergarten.“

Wie alle Königskerzen wird die purpurblütige Königskerze gern von Insekten aufgesucht.
Über eine Glockenblume sei sie auf die Idee des Naturgartens gestoßen. „Es gab da ein Beet“, erzählt sie. Dort sei jede Pflanze, die sie kaufte, eingegangen. Von irgendwoher fand schließlich eine Glockenblumen den Weg auf die Fläche. Sie überlebte nicht nur. Mit ihren Nachkommen nahm sie das Beet in Besitz. „Das sah so romantisch aus“, erinnert sich Wehner. Von da an sei sie vom Gärtnern mit heimischen Pflanzen überzeugt gewesen.
Mit dem gängigen Bild eines Naturgartens, in dem sich alle Pflanzen wildwuchernd über jegliche Grenzen hinwegsetzen, ohne dass der Mensch ordnend eingreift, hat ihr Garten kaum Ähnlichkeit. Handelt es sich also überhaupt um einen Naturgarten? „Es gibt kein richtig oder falsch“, versichert sie. Als sie sich zur Naturgartenplanerin ausbilden ließ, habe sie erfahren, wie umstritten die Definition des Naturgartens ist. Tatsächlich konnten sich selbst die Mitglieder des Vereins „Naturgarten“ nur schwer einigen. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner: „Ein Naturgarten besteht zu mindestens 70 Prozent aus heimischen Pflanzen“, sagt Wehner. Es gebe aber auch Naturgarten-Vertreter die 100 Prozent forderten. Außerdem seien Gift- und Chemieeinsatz in Naturgärten verpönt. Sie erhielten sich selbst, seien nachhaltig, pflegeleicht und unterm Strich kostensparend, nennt Reinhard Witt, Präsident des besagten Vereins „Naturgarten“ in seinem Buch „Natur für jeden Garten“ weitere Punkte. Wie Oudolf haben Witts Publikationen Julia Wehners Gartenplanungen inspiriert.

Julia Wehner nutzt Wildpflanzen und Gräser in ihrem Garten wie Farben.
„Ich denke, die 70-Prozent-Regel halte ich ein“, meint sie. Wer sie besucht, dessen Blick fällt als erstes auf eine Wolke aus weißen, orange überhauchten Rosenblüten. Gleich einer Girlande umrankt die Kletterrose den Hauseingang. Hinter dem Gebäude wächst zwischen den Gehwegfugen ein Teppich aus purpurfarbenem Thymian. Die sich anschließende Terrasse liegt wie eine Insel in einem Meer aus Stauden und Gräsern. Jenseits der Rasenfläche fällt der Blick auf den Teich. Daneben verspricht ein von Klinkersäulen eingefasstes Tor weitere Entdeckungen.
„Unter den Insekten gibt es zwar Generalisten, die sich auch von nicht-heimischen Pflanzen ernähren können, ihre Raupen und Larven können das aber nicht“, erklärt Wehner den Grund für die 70-Prozent-Regel. Der Aurora-Falter sei ein Beispiel. Er ist auf Kreuzblütler wie die Knoblauchrauke und das Wiesenschaumkraut angewiesen. An ihnen legt er seine Eier ab. Die geschlüpfte Raupe ernährt sich von den Blüten der Pflanze und verpuppt sich hängend am Stängel des Kreuzblütlers. Im nächsten Frühjahr schlüpft der Falter. Zumindest wenn seine Wirtspflanze nicht dem Rasenmäher zum Opfer gefallen ist.

Julia Wehner liebt die Natur und sie liebt die Ästhetik. In ihrem Naturgarten am Rand von Worpswede verbindet sie beides. Ein Beispiel dafür sind die blühenden Flächen am Rand ihrer Terrasse. Sie wirken wie Blumenwiesen, sind aber durchgeplante Staudenbeete. Da sie größtenteils heimische Pflanzen gesetzt hat, summt und brummt es rund um die Beete vor Insekten.
Sie habe den Eindruck, dass die Naturgarten-Idee Fahrt aufnimmt, sagt Wehner. „In den vergangenen fünf Jahren sind immer mehr Leute zu mir gekommen; sie alle wollten Insekten helfen.“ Da, laut Nabu, die Gesamtfläche aller Gärten in Deutschland etwa halb so groß sein soll, wie die aller Naturschutzgebiete, könnte in diesem Trend eine kleine aber wichtige Chance für die Tiere und Pflanzen liegen, deren Lebensraum außerhalb der Siedlungen inzwischen bedroht ist.
Oft handele es sich bei ihren Kunden um Familien, denen aufgefallen sei, dass gar keine Vögel in ihren Gärten seien, berichtet Wehner. „Beim Ortstermin bemerke ich dann, dass sie nur exotische Pflanzen haben.“ Oft suchten Leute mit alten, eingewachsenen Gärten ihre Hilfe. Dann gehe es nicht darum, Tabula rasa zu machen, sondern eine Ecke nach der anderen umzugestalten. „Manchmal ist es erst der Terrassenbereich; oder im hinteren Bereich soll was geändert werden; das geht, aber es sollte doch ein Gesamtkonzept existieren.“ Selbst wenn nirgendwo mehr Platz für Neues zu sein scheine: „Frühblüher wie Lungenkraut und Schlüsselblume kann man überall mit reinschmuggeln, die brauchen kein eigenes Beet.“

Ein gedeckter Tisch für Insekten.
Bei der Gestaltung ihrer Staudenbeete benutzt sie Wildpflanzen und Gräser wie Farben. Was am Rand der Terrasse auf den ersten Blick wie eine blühende Wiese wirkt, ist ein durchgeplantes Beet: ein Gemälde aus blau-blühendem Ehrenpreis, blauen Glockenblumen, den roten Blüten des großen Wiesenknopfs und Gräsern. Um das Bild zu erhalten, muss auch die Naturgärtnerin jäten: „Wenn ich alles wachsen ließe, würden sich Brombeeren ausbreiten und ein Moorbruchwald entstünde.“
Die Mär vom Naturgarten, der keine Arbeit macht, ist also genau das: eine Legende. Richtig ist, dass ein Garten aus heimischen Wildpflanzen weniger Arbeit bereitet, als einer mit Zierpflanzen. „Ich brauche für meine Staudenbeete insgesamt eine halbe Stunde im Monat.“ Die heimischen Pflanzen seien an den Standort angepasst, bräuchten weniger Wasser, weniger Dünger. Nur die Standort-Wünsche der Wildpflanze stimmen nicht immer direkt mit der Standort-Wahl des Gartenbesitzers überein, und so lässt der grüne Bewohner seine Nachkommen wandern. Abwarten, hingucken, beobachten, müssen Naturgarten-Besitzer daher können oder lernen. „Geduld ist ganz wichtig“, nickt Wehner.
Diese Geduld sei bereits bei der Planung gefragt. Viele Gartenbesitzer ließen sich vom Pflanzenangebot in den Gartencentern verführen, bedauert Wehner. Selbst wenn sie sich bei ihrem Kauf an die Kennzeichnung „Bienen-freundlich“ hielten, seien das meist nur Pflanzen für die Generalisten unter den Insekten; Wildbienen gingen dabei leer aus. Wer einen Naturgarten anlegen möchte, sollte sich überlegen, ob es sich nicht lohne, eine Wildpflanzen-Gärtnerei aufzusuchen, so Wehner. Anders als vor 20 Jahren, als sie das Thema für sich entdeckte, sei das heute kein Problem.
Damals, als sie ihren Garten anlegte, überlegte sie zunächst, wie sie das Grundstück einteilen wollte. Wo sollten die Wege, wo die Beete hin? Der Plan vom Gemüse- und Obstgarten samt Kompostmieten hinter der Buchen-Hecke und dem Eisentor nahmen Gestalt an. Ein Gartenschuppen brauchte ebenso einen Platz wie das Gewächshaus. Die Terrasse sollte von Stauden umschlossen und von einem Hausbaum beschattet werden. Rosen an der Fassade und zum Nachbarn eine Hecke aus Wildsträuchern waren ein Muss. „Und wo der Bagger schon mal da war, wollte ich den Teich haben“, erzählt sie.
Das Besondere am Naturgarten: Laut Witt gibt es in ihm keinen Abfall. Aus Astschnitt werden Totholzhaufen, aus ausrangierten Betonplatten, Dachziegeln und anderen Steinen Trockenmauern gebaut. Beides bietet Lebensraum und Schutz für Tiere, Insekten und Amphibien. Und mit Aushub – zum Beispiel von einem Teichbau wie bei Wehners – könne das Gelände modelliert werden.
Rund um ihren neuen Teich schuf Julia Wehner schließlich eine Fläche mit Rohrkolben, Blut- und Gilbweiderich, Mädesüß, Sumpf-Ziest und anderen Pflanzen, die es feucht an den Füßen mögen. Direkt am Haus pflanzte sie Rosen. Nachdem sie Bäume und Sträucher gepflanzt hatte, kamen die Stauden für die Beete an die Reihe. Und selbst für die Frühblüher – die immer gehen – fand sich ein Plätzchen: „Unter den Birken wachsen nun Schneeglöckchen.“ Für Tiere und Insekten hat Julia Wehner damit den Tisch das ganze Jahr über reich gedeckt.
Ein Strauch für 24 Vogelarten
70 Prozent der Pflanzen in Naturgärten sollen heimische Arten sein. Warum? Das erklären unter anderem Reinhard Witt („Natur für jeden Garten“) und Uwe Westphal („Hecken – Lebensräume für Garten und Landschaft“). Der Grund sind die Tiere und Insekten: Sie können mit Pflanzen wie Thuja und Kirschlorbeer wenig anfangen. Sie stehen auf Wildsträucher wie den roten Hartriegel (Cornus sanguinea; heimisch). Allein 24 Vogelarten fliegen auf seine Beeren. Für weitere acht Wildbienen- und acht Säugetier-Arten ist der rote Hartriegel außerdem eine Futterpflanze. Zum Vergleich: Die des weißen Hartriegels (Cornus alba; ursprünglich Sibirien) sind bei acht Vogelarten angesagt.
Ähnlich sehen die Zahlen für andere Wildsträucher wie die Brombeere aus. Sie ist bei 26 Wildbienen-, bei 32 Vogel- und bei sieben Säugetierarten beliebt. 16 Wildbienen- und 15 Vogelarten fliegen beispielsweise auch auf den Feldahorn. Eine Hecke aus Pfaffenhütchen, schwarzem Holunder, wolligem Schneeball, Hundsrose und Haselnuss ist daher ein Magnet für allerlei Getier. Allerdings sind diese Hecken raumgreifender als eine Thujahecke, müssen dafür aber nicht jährlich werden. Und nach etwa fünf Jahren bilden auch sie einen guten Sichtschutz, sagt Julia Wehner.
Besonders wertvoll für die Tierwelt sind außerdem Reisig- und Steinhaufen vor beziehungsweise in einer Hecke. Von Brombeeren, Geißblatt oder einer Kriechrose überwachsen, werden sie gern von Zaunkönig und Rotkehlchen als Kinderstube angenommen. Sie bieten Igeln Schutz und werden auch von Amphibien wie der Erdkröte als Rückzugsort gewählt. Die Fläche zu Füßen einer solchen Hecke sollte außerdem durch einen Saum aus Wildstauden und Einjährigen weiter aufgewertet werden. Je nach Standort eignen sich dafür beispielsweise die gemeine Akelei, die rote Lichtnelke, die Himmelsleiter, Klettenkerbel, Gemeiner Odermenning, Rainfarn und die Wiesenflockenblume.
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