Osterholz-Scharmbeck. Liebe und Trauer, Wut und Angst – in meisterhafter Manier breitete Harald Vogel auf der großen Erasmus-Bielfeldt-Orgel eine ganze Skala der Gefühlsaufwallungen aus, die sich des Menschen bemächtigen können. Es war ein wahrhaft „krönender“ Abschluss der Scharmbecker Orgeltage. Der Professor hatte den biblischen König David in den Mittelpunkt des Abends gerückt, welcher der Königin der Instrumente gewidmet war. Er stellte Johann Kuhnaus biblische Sonate Nummer eins („Der Streit zwischen David und Goliath“) der Toccata d-Moll von Johann Sebastian Bach (BWV 565) gegenüber, die mit ihrem mitreißenden Pathos, den improvisatorischen Läufen und verminderten Akkorden sowie dem sich anschließenden berühmten Fugenthema zu den populärsten Werken der Orgelliteratur gehört.
Musikalisches Schlachtengemälde
Heftig aufrüttelnd schon der Konzertauftakt: Eine Battaglia, ein martialisches musikalisches Schlachtengemälde, stellt die Eröffnung der Kuhnau-Sonate dar. Sie ist hochgradig dramatisch und gespickt mit Dissonanzen. Zu Lebzeiten des Barockkomponisten (1660 bis 1722) schufen die Musik-Baumeister „Hörbilder“, benutzten Figuren, musikalische Zeichen, die später auf ganze Ton- beziehungsweise Zeichengruppen erweitert wurden und als Affekte wie Hass, Liebe oder Not rezeptiert wurden. Beispielhaft dafür stehen nach Auflösung schreiende Intervalle wie der auch als „Teufelston“ bezeichnete Tritonus. Vogel wies in seiner Einführung darauf hin, dass alle vorgestellten Stücke in die Kategorie „Programmmusik“ fallen. Der Begriff hatte in der Wahrnehmung des 20. Jahrhunderts einen geradezu stigmatisierenden Beiklang. Der Organist fand, dass man Sonate wie Toccata und ebenso das zweite Bach-Werk, eine d-Moll-Chaconne aus der Partita für Solovioline (BWV 1004), die er für die Orgel transkribiert hat, auch als absolute Musik hören könne, aber mehr davon habe, wenn einem der Text geläufig sei.
Im Streit zwischen David und Goliath schuf Vogel mit der altehrwürdigen Orgel in der St.-Willehadi-Kirche wilde Ausbrüche. Man glaubte förmlich zu hören, wie Saul seine Speere schleuderte. Aber Vogel entlockte der Orgel auch wundervoll sanfte Töne aus den Flötenregistern. Er schildert das Leiden des seelenkranken Saul, dem Gott aber einen „herrlichen Musicum“ schickte, in Gestalt des Königs David, der ihn mit seinem Harfenspiel von seiner „Melancholia“ kurierte.
Vogel hatte sich für die „Orgelmusik und Poesie“ nicht zufällig Kuhnau und Bach als Komponisten ausgeguckt. Kuhnau war der Amtsvorgänger des großen Thomaskantors in Leipzig. Der Professor beschrieb ihn als eine Persönlichkeit, die eine große Rolle im Geistesleben der Stadt spielte. Bach, der zugunsten seiner Organistenausbildung in Lüneburg das Lateinlernen vernachlässigt habe, sei im Vergleich zu Kuhnau der „Underdog“ gewesen. Kuhnau war Notar und als ausgebildeter Mediziner auch auf dem Gebiet der Psychologie bewandert, sodass er die Qualen Sauls sehr eindringlich in Noten zu setzen vermochte. Kuhnau sei moderner als Bach gewesen, etwa mit dem Einsatz des verminderten Septimenakkords, der im Jazz eine wichtige Rolle spielt.
Bei der von Vogel bearbeiteten Chaconne d-Moll handelt es sich um ein ebenso gehaltvolles wie geheimnisvolles Werk, das gern als Tombeau, als musikalischer Grabstein gedeutet wird, ist es doch kurz nach dem Tod von Bachs erster Ehefrau Maria Barbara im Jahr 1720 entstanden. So beginnt die gespielte Variante der antiken Orpheus-Sage gleich mit einem Lamento, das der Held anstimmt, weil die von ihm geliebte Nymphe Eurydike vom Biss einer Schlange getötet worden ist.
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