Umgang mit Demenz Leben nur im Moment

Fotograf Fritz Dressler hat Demenz. Seine Kinder haben sich entschieden, ihn nicht in ein Heim zu bringen. Und so streift der alte Mann frei durch Worpswede - so lange es geht.
05.04.2018, 21:39 Uhr
Lesedauer: 4 Min
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Von Lars Fischer

Das Handy klingelt. "Hauke, dein Vater ist hier. Was sollen wir machen?" "Hat er denn Schuhe an und eine vernünftige Jacke?" Das habe er, bestätigt der Anrufer. "Dann ist doch gut. Lasst ihn einfach wieder gehen, wenn er will." Normalität ist manchmal Überzeugungsarbeit.

Die Verhältnisse haben sich umgekehrt: Nicht ein Elternteil sorgt für sein Kind, sondern der selbst längst erwachsene Sohn und seine Schwester sind in der Verantwortung für den Vater. Der ist in Worpswede bekannt wie ein bunter Hund: Fritz Dressler ist einer der bedeutendsten Fotografen in der Region. Oder muss man sagen "war"? Unzählige Bildbände hat er gemacht, allein 28 Mal den begehrten Kodak-Preis gewonnen und Jahrzehnte als Professor an der Bremer Hochschule für Künste gelehrt.

Das ist Vergangenheit, und von der sind ihm bestenfalls vage Andeutungen geblieben. Die Gegenwart ist die Demenz. Die Krankheit hat beinahe alle Erinnerungen geraubt, Fritz Dressler lebt nur noch im Moment. Dieses Hier und Jetzt haben seine Kinder für ihn anders organisiert, als es die Norm ist – so lange es so geht. Die Entscheidung gegen eine Heimunterbringung kann nur eine vorläufige sein. Aber dem Unkonventionellen stand ihr Vater schon immer offen gegenüber, das ist jetzt nicht anders, auch wenn alles andere anders geworden ist.

"Der Preis für seine Freiheit ist ein gewisser Grad an Verwahrlosung", sagt Hauke Dressler. Der "bunte Hund" ist heute eher ein streunender Hund. Mit seinem Haustürschlüssel um den Hals zieht er seine Kreise durch Worpswede. Die Menschen kennen ihn, er erkennt sie wohl meistens nicht. Sicher auch nicht den Autor, mit dem er vor sieben Jahren noch gemeinsam sein letztes Buch über die Music Hall gemacht hat.

Vieles ist noch da

Die Furcht vor diesem Moment, in dem einen der Freund nicht mehr erkennt, gab es schon länger. Als er dann gekommen war, war er nicht weiter von Bedeutung. Der Mensch ist noch immer da, seine Emotionalität auch. Die typische Motorik und Gestik, die Stimme und die Aura, die Präsenz, mit der er noch immer einen Raum einnimmt. Weg sind die gemeinsamen Erinnerungen. Die Geschichten, die man teilte, sind abgerissen, sie bleiben nur der einen Seite, aber sie bleiben.

"Wer bis du denn?", fragt Dressler sein Enkelkind, so wie Opas das eben machen. Nur dieser meint die Frage ernst. Demenz ist kein Schlaganfall, es ist ein schleichender Prozess. Die Diagnose steht seit rund vier Jahren fest, seitdem weiß man, dass das, was man schon länger für Schusseligkeit oder charmante Absonderlichkeit gehalten hat, in Wirklichkeit die Vorboten waren.

Das Chaos auf dem Computer-Bildschirm, kaum geordnet, schon wieder neu entstanden. Die schier unübersichtliche Sammlung von Speicherkarten mit Fotos, die irgendwann unauffindbar waren. Die manchmal schon fast als Trotz empfundene Unfähigkeit, sich Namen zu merken oder sie zu erinnern. Und die große innere Unruhe mit ihren schlaflosen Nächten. Fritz Dressler war immer in Bewegung, ein Reisender, der die Welt mit seiner Kamera einfing.

Ständig in Bewegung

Sein Sohn Hauke ist denselben Weg gegangen. Auch er ist Fotograf geworden und viele Monate im Jahr auf Reisen. Anfang 2017 ist er mit seinem Vater noch einmal in das Ferienhaus der Familie nach Lappland gefahren, 2500 Kilometer durch Eis und Schnee bis an den Polarkreis. Als sie dort ankamen, hat sein Vater die Hütte, die er selber beinahe wie ein Siedler im Wilden Norden Anfang der 60er-Jahre gebaut hatte, nicht wieder erkannt. Die Reise hat der Sohn für ein Magazin in Wort und Bild dokumentiert, die Reportage ist nominiert für den Henri-Nannen-Preis.

Im ersten Leben war Fritz Dressler Architekt, aber er hat nur drei Häuser gebaut: die Hütte in Finnland, ein Wohnhaus in Detmold, wo er aufwuchs, und schließlich sein Haus in Worpswede, in dem er bis heute lebt. Das Sesshafte war nicht seins, vielleicht ein Trauma aus der Kindheit, als die Familie aus Potsdam fliehen musste. Der Vater starb früh, Friedrich Wilhelm – wie Fritz eigentlich, preußisch korrekt heißt – musste sich seine Männlichkeit allein ergründen.

Er wurde ein Macher, aber auch ein Getriebener. Dieser Charakterzug mag bis heute Motor für seine ständige Bewegung sein. Im vergangenen Monat ist er 81 Jahre alt geworden, und wenn sich auch in seinem Gesicht tiefe Spuren des Lebens eingegraben haben, seine Kondition und Konstitution ist überdurchschnittlich gut. Nur selten sind die Schritte unsicher, und auf seinen Orientierungssinn kann er sich blind verlassen. Muss er auch.

Keine Wut, kein Groll

Sich helfen zu lassen fällt ihm schwer, denn das Bewusstsein für die Notwendigkeit fehlt. Aber nur so ist das Leben zuhause machbar: mit Pflegekräften und Freunden, Sohn und Tochter, die Alltag organisieren und sicherstellen, dass Medikamenten-Einnahme, Mahlzeiten und Körperhygiene regelmäßig stattfinden. Das ist das eine. Das andere ist der Umgang miteinander.

Alles, was er in der nicht unkomplizierten Beziehung zu seinem Vater nicht beizeiten aufgearbeitet hat, kann Hauke nicht mehr klären, obwohl das Gegenüber noch da ist. Er muss damit leben, den eigenen Themen nicht nachgehen zu können, keine Wut und keinen Groll zu hegen deswegen. "Mein Vater spiegelt mir meinen eigenen Stress", sagt er. Wenn er unausgeglichen in Begegnungen geht, schaukelt sich schnell die Stimmung hoch und kippt ins Aggressive.

Auf Überforderung reagiert der Vater mit Rückzug – für die Geschwister eine bekannte Reaktion auch aus der Zeit vor der Erkrankung. Genauso sind an guten Tagen sein Charme und Charisma noch da. Die wenigen Menschen, die den älteren Herren auf seinen Wegen durch Worpswede ansprechen, bekommen eine freundliche Antwort. Im Dorfcafé, wo er regelmäßig Station macht, kennen ihn alle und versorgen ihn mit Kuchen – noch so eine Leidenschaft, die unverändert ist.

Genauso wie das Gespür für Design, der fotografische Blick, der immer wieder an einer besonders auffällig geschwungenen Vase haftet. Die Form ist erkannt, aber die Funktion der Dinge vergessen. Reflexartig fotografiert Fritz Dressler zuweilen noch, die Motive sieht er weiterhin, nur technisch kann er sie nicht mehr in brauchbare Fotos umsetzen. Er nimmt wieder und wieder dasselbe Bild auf, weil er vergessen hat, dass er es gerade schon einmal gemacht hat.

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